Kritik: Infamous – Second Son


 

Wenn es jemand schafft, unschlüssige Kunden auf eine neue Videospielkonsole zu locken, dann sind das attraktive Exklusiv-Entwicklungen: Bei der Xbox 360 haben Titel wie "Halo 3" und die "Gears of War"-Spiele das Eis gebrochen, auf der PS3 war es vor allem "Uncharted"-Frontmann Nathan Drake. Auf den Nachfolgegeräten fehlen solche System-spezifischen Spielspaß- und Grafikgranaten noch – entsprechend eilig haben es beide Hersteller, diesen Missstand zu korrigieren. Doch der Zeitdruck hat seinen Preis: Die Produkte dieser schwierigen Übergangszeit zeigen Potential und schicke Technik, doch meistens mangelt es ihnen etwas an inhaltlicher Reife und Umfang.

 

In eben diese Kategorie fällt auch der jüngste Exklusiv-Output für die PS4: "Second Son" ist der inzwischen dritte Teil der "Infamous"-Reihe von US-Entwickler Sucker Punch, den man vor allem für die Abenteuer des putzigen Jump'n'Run-Leisetreters "Sly Raccoon" kennt. 2009 lässt man zum ersten Mal den mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Fahrradkurier Cole durch eine frei begehbare, fiktive US-Metropole flitzen, klettern und schweben.

Sieben Jahre nach Coles zweiten Abenteuer hat sich die Spielwelt dramatisch verändert: "Second Son" schildert, wie die verbliebenen US-Metropolen von den D.U.P.-Schutztruppen (D.U.P. für "Department of Unified Protection") abgeriegelt und überwacht werden – vorgeblich, um die Bevölkerung vor den Conduits bzw. "Bio-Terroristen" zu beschützen, doch in Wahrheit ist die SS-artig organisierte Einheit längst zur eigentlichen Bedrohung für Land und Leute geworden. Allein der indianische Rumtreiber Delsin stellt sich zum Kampf: Mit trendiger Wollmütze, (etwas vielleicht zu bemüht) frechen Sprüchen, Graffiti-Spraydose und allerlei übernatürlichem Brimbamborium bewaffnet will er der Obrigkeit zeigen, von wo es Rauch und Feuer weht.

Tatsächlich stehen dem aufsässigen US-Ureinwohner von Rauch- und Feuerkräften bis hin zu schillernden "Neon"-Schüssen vor allem aggressive und defensive Fertigkeiten zu Gebote, mit denen er ballert, prügelt, betäubt und sich in eine Art lebendige Massenvernichtungswaffe verwandelt. Andere Kunststücke steigern seine akrobatischen Talente: Die Kletter-Begabung des Twens nimmt wie schon bei seinem Vorgänger Cole überirdische Dimensionen an, außerdem lernt er zu schweben und kurzzeitig zu entmaterialisieren – auf diese Weise kann er als flüchtiges Rauch-Wölkchen durch Hindernisse flutschen oder in Windeseile den Abstand zwischen zwei Hochhäusern überwinden. Doch Delsins eigentliche Kraft ist, dass er die Fähigkeiten anderer Conduits absorbieren kann – eine Begabung, die er erst entdeckt, nachdem er im Auftakt zu "Second Son" über einen verunglückten Gefangenen-Transport mit Conduits stolpert. Die Berührung mit einem der Insassen setzt Delsins Kräfte frei – und ihn selber auf die schwarze Liste des D.U.P.

 

 

Zusammen mit seinem Bruder – einem gesetzestreuen Polizisten, den die Conduit-Werdung Delsins in einen schweren Gewissenskonflikt stürzt – macht er sich auf den Weg nach Seattle, um seine neuen Fähigkeiten zu ergründen und dem D.U.P. auf den militanten Zahn zu fühlen: Hier wird aus der geradlinigen und Tutorial-artigen Einführung das aus den Vorgängern bekannte 'Open World'-Game, in dem der Spieler erforschen, mit seinen Superkräften experimentieren, neue Fähigkeiten dazu gewinnen und bereits vorhandene ausbauen kann. Außerdem bestimmt der Indianer-Conduit hier, welchen moralischen Pfad er beschreitet: Je nachdem, ob Leichen oder milde Taten seinen Weg pflastern, darf er im Fertigkeitenmenü besonders zerstörerische oder auf die Bewahrung von Leben hin ausgerichtete Kräfte lernen. Schade nur, dass "Second Son" aus diesem verheißungsvollen Szenario erzählerisch und spielerisch nicht so viel rausholt wie die Vorgänger: Abgesehen von simplen Extra-Aufgaben wie Graffiti-Kunst verzichtet das dritte "Infamous" auf jede Form von echter Neben-Mission, darum bleibt der Schauplatz Seattle trotz viel grafischer Finesse zu leblos und unpersönlich.

 

Auch auf die Einführung prägender Charaktere abseits von Delsin und seinem Bruder verzichtet "Second Son" fast vollständig, Nebenfiguren wie die Tante der beiden oder andere Conduits werden trotz ihres Potentials regelrecht verschenkt. Was umso tragischer erscheint, da Sucker Punchs Next-Gen-Technik nicht nur durch eine wundervoll plastische Spielumgebung und tolle Partikel-Effekte wie Rauch und Funken verzückt: Vor allem die verblüffend lebensechte Mimik seiner virtuellen Darsteller ist es, die den Betrachter umhaut. Deren Gesichter sind regelrechte 3D-Landkarten voller Poren, sich kräuselnder Falten und beweglicher Muskeln – in dieser Detailstufe und Auflösung ein absolutes Novum, das sogar Minenspiel-Schwergewichter wie "Beyond" oder "L.A. Noir" abhängt, hier jedoch viel zu selten genutzt wird.

 

Was bleibt, das ist ein zwar rundum unterhaltsames und spielerisch klug ausbalanciertes Grafik-Spektakel, doch dem mangelt es leider ein wenig an der Abwechslung und dem erzählerischem Rumms seiner Vorgänger. Mit einem halben Jahr zusätzlicher Entwicklungszeit hätte "Second Son" vermutlich das Zeug zum bisher besten "Infamous" gehabt, doch so ist es vor allem eins: Ein attraktives Versprechen auf das, was da PS4-seitig noch alles kommen mag. Immerhin. (8 von 10)

 


Naughty Dog & Sony • ab 21. März für PS4 • ca. 70 Euro • ab 16 Jahren • für Profis


WERTUNGEN: 1.0, 1.5, 2.0 = ungenügend • 2.5, 3.0, 3.5 = mangelhaft • 4.0, 4.5, 5.0 = ausreichend • 5.5, 6.0, 6.5 = befriedigend • 7.0, 7.5, 8.0 = gut • 8.5, 9.0, 9.5 = sehr gut •

10 = legendär