Gewollte Sperrigkeit: Dragon's Dogma 2


 

Langsam und gemächlich stapft der Erweckte durch Wald und Wiesen. Dabei ignoriert er geflissentlich die meisten Design-Konventionen und Komfort-Funktionen moderner Open-World-Titel. Satte 13 Jahre Zeit hat man sich bei Capcom Zeit gelassen, um einen Titel fortzusetzen, der selbst damals nicht mehr zeitgemäß war. Kann das heute überhaupt noch Spaß machen?

KRITIK • PS5, Series X/S, PC • Vorsichtig streifen wir durchs Unterholz. Die Sichtweite beträgt nur wenige Ellen, dann folgt tiefe Schwärze. Haben wir genug Lampen-Öl eingepackt? Die Einkaufstour im befestigten Weiler ist gefühlte Stunden her. Vor uns bricht der Weg plötzlich weg. Die Verwerfung vor unseren Füßen könnte nur wenige Klafter tief sein, es könnte aber auch der Sturz in einen bodenlosen Abgrund folgen. Und was, wenn es ein Abgrund wäre? Würden wir den Sturz überleben? Und wüssten wir, wie wir es wieder nach oben schaffen? Oder wären wir zur Not bereit, einen der raren Reisesteine zu opfern, um ins Lager zurück zu teleportieren? Geiz und Vorsicht siegen schließlich. Wir sammeln unsere kleine Gruppe und bewegen uns vorsichtig an der vermeintlichen Schlucht entlang. Nach einer Weile stoßen wir auf einen Höhlen-Eingang. Sollen wir?


Das war im Mai 2011. Eine Zeit, die dominiert wird von Schlauch-Blockbustern wie "Uncharted", "Gears of War" und der Legion der jährlichen „Call of Duty“-Updates. Es wird frenetisch gefeiert, wenn sich Nathan Drake am Türrahmen festhält und so für Kino-Atmosphäre sorgt. Zock-Veteranen fühlen sich an die Design-Versprechen der frühen Neunziger erinnert, als man glaubte, Film und Telespiel würden zwangsläufig zu einer Art gemeinsamem Super-Medium verschmelzen. Doch es gibt eine Gegenbewegung! "Skyrim", sechster Teil der "Elder Scrolls"-Reihe, schockiert mit gnadenloser Größe, "Dark Souls" mit unnachgiebiger Härte. Irgendwo dazwischen positioniert sich "Dragon's Dogma", ein quasi-westliches Rollenspiel aus japanischer Hand.


Aushängeschild sind Kämpfe mit riesigen, mythologischen Kreaturen, die aus dem antiken Griechenland entsprungen scheinen …  und "Pawns", zu deutsch Vasallen – computergesteuerte Helferlein, die selbständig kämpfen, Heilzauber sprechen und sich in unseren Gegnern verbeißen. Mit der neuen IP und einem aufwendigen, aber schwer zu vermittelnden Spielsystem scheint Capcom hier ein enormes unternehmerisches Risiko einzugehen. Lohn der Mühen: ein Sleeper-Hit, der eine treue Fan-Gemeinde um sich schart. Jahr für Jahr.

Doch trotz all des Aufwands scheint Capcom schnell das Interesse an der Marke zu verlieren: Nach der Erweiterung "Dark Arisen" ist für lange Zeit Schluss. Diverse HD-Remaster und eine Netflix-Miniserie verbuchen wir unter Zweitverwertung. Derweil etabliert From Software mit "Dark Souls" ein ganzes Marken-Universum, formt im Alleingang das "Soulsborne"-Subgenre und schnappt sich frech die Definitions-Hoheit für schwere Videospiele. Nun, nach einer gewaltigen Durststrecke, gießt Capcom endlich wieder Lampen-Öl auf durstige Fan-Kehlen. "Dragon's Dogma" ist zurück.
Natürlich betreten wir auch hier die Höhle. Einerseits aus Neugier, andererseits aus einem Gefühl der Notwendigkeit heraus. Wer weiß, ob es uns jemals wieder in diese Ecke verschlägt – ob wir diesen Weg ein zweites Mal zurücklegen werden? Denn Karten-Markierungen, wir wie sie seit vielen Jahren aus den meisten Open-World-Spielen kennen, gibt es hier nicht. In "Dragon's Dogma" müssen wir uns den Weg noch selber erarbeiten. Also: Wenn nicht jetzt – wann dann? Und rein ins Vergnügen: Die engen Höhlenwände reflektieren das Licht unserer Lampe, sodass wir nun deutlich besser sehen können. Reicht das verdammte Öl auch wirklich? Wir finden erste Schatztruhen – pffft, nur Müll! Da bröckelt es über unseren Köpfen. Goblins haben uns aufgelauert! Von oben trifft uns ein Krug mit Öl (Öl, hurra! Aber nein – doch nicht so!) und unsere Gruppe steht in Flammen!

 



 

Okay, fühlt sich also an wie immer. Aber wo sind die Neuerungen? Schließlich ist in der Abwesenheit des herzlosen Drachentöters einiges passiert. Insbesondere "The Legend of Zelda: Breath of the Wild" und "Elden Ring" haben das Open-World-Genre kräftig umgerührt und auf den Kopf gestellt. Beide Titel bieten eine erstaunliche Vertikalität. Das bleiche Pferd Sturmwind in "Elden Ring" beherrscht einen Doppelsprung und kann sich von Windhosen kilometerhoch in die Lüfte katapultieren lassen. Grünmütze Link wiederum darf beliebig hohe Berge erklimmen, solange die kreisrunde Kletter-Anzeige darauf hinweist, dass immer noch Kraft in den Elfen-Armen steckt. In der Fortsetzung "Tears of the Kingdom" verfügt er sogar über ein Werkzeug, mit dem er sich durch die Decken von Höhlen und Gebäuden buddelt.


Nicht so in "Dragon's Dogma 2": Berge stellen kaum zu überwindende Hindernisse dar. Wer sie erklimmen will, der muss sich, mit Landkarte bewaffnet, auf verschlungenen Pfaden den Gipfel hocharbeiten. Ähnliche Probleme bereiten Flüsse. Im Wasser lauern die "Laken“ – gierige Fleischfresser, die jedes Lebewesen sogleich in blutigen Sprudel verwandeln. Hängebrücken können zerstört werden, sei es durch uns selber oder eine Monster-Attacke. Am besten also, wir merken uns die Position der wenigen steinernen Viadukte. Und wer große Entfernungen zurücklegen will, der reist am besten per Ochsenkarren. Das geht aber ins Geld und außerdem seeeeehr gemächlich vonstatten.
Und wir werden sogar als Wache eingeteilt: Wenn garstige Goblins das Fuhrwerk überfallen, werden wir aus dem Schlaf geweckt und müssen den Monstern Saures geben. Größere Kreaturen können das Fahrzeug tatsächlich komplett zerstören und uns auf diese Weise dazu verdammen, den restlichen Weg per pedes zurückzulegen. Durch strömenden Regen. Igitt.


Aber zurück zu unserer Höhle: Wir flüchten panisch aus dem Tunnel – und in die Sonnen-beschienene, fast schon mediterran anmutende Kulisse. Wo griechische Sagengestalten wie Greifen und Zyklopen an der Seiten von Fantasy-Biestern wie Goblins oder Ogern auf die Jagd gehen. Und sich auch mal gegenseitig an die Kehle springen. Immerhin ist Licht jetzt kein Problem mehr. Nur: Einer unserer liebgewonnenen Vasallen hat es leider nicht geschafft. Wir verbringen also eine unruhige Nacht im Zelt, um wenigstens etwas Kraft für den langen Rückmarsch zu sammeln. Wenigstens werden wir nachts nicht überfallen, denn das Zelt ist gut getarnt und verschmilzt förmlich mit der Umgebung. Zurück im Dorf, begeben wir uns direkt zum „Rift-Kristall“. Hier dürfen wir von anderen Spielern erstellte Vasallen rekrutieren, um die eben entstandene „freie Stelle“ neu zu besetzen. Was darf es denn diesmal sein: kräftiger Nahkämpfer, flinker Dieb oder mächtige Zauberin? Wir entscheiden prompt nach Optik und rekrutieren eine Kollegin im zauberhaft knappen Rüschen-Kleidchen. Ein bisschen Anime-Ästhetik muss dann wohl doch sein – trotz der für japanische Entwickler-Verhältnisse ungewohnt räudig-realistischen und westlichen Anmutung von Capcoms Echtzeit-Rollenspiel.

Auch was ihre Schwatzhaftigkeit angeht, folgen die Bewohner der europäisch gehaltenen Drachenwelt der Manga-Maxime: Vasallen machen auf Schatztruhen aufmerksam, verraten die Schwachpunkte von Bossen oder philosophieren darüber, welche neugewonnenen Informationen sie ihrem Herrn überbringen können, wenn wir sie erst entlassen. Auch in den Städten summt es vor geschäftigem Geplapper. Umso enttäuschender finden wir es, dass Capcom hier auf deutsche Sprachausgabe verzichtet – das Studium winziger Subtitle-Zeilen gehört also zum (an dieser Stelle eher zweifelhaften) Spielvergnügen. Kurzum: Für den "Dragon's Dogma 2"-Genuss müssen wir eine Menge Leidensfähigkeit mitbringen – von der durch Capcom kalkulierten ebenso wie von der weit weniger willkommenen Sorte. (Martin Nagel)

elektrospieler meint: Das neue "Dragon's Dogma" ist schon so dermaßen schmerzhaft klassisch, dass es sich für die heutige Zeit fast wieder frisch anfühlt – und das nicht aus Mutlosigkeit, sondern mit voller Absicht. Eine Härte, die sich aber nicht für jeden Zocker-Typ eignet: Selbst hartgesottenen "Soulsborne"-Veteranen könnte die Ochsentour zu langatmig sein. Dennoch schafft es "Dragon's Dogma 2" gerade durch seine kalkulierte Sperrigkeit, sich vom Einheitsbrei der Händchen-haltenden Casual-Weltenbaukästen abzusetzen. Das ist noch echtes Camping anstelle von luxuriösem "Glamping"! Dabei rangiert die Monster-Hatz auf einem erfreulich hohen spielerischen wie technischen Niveau, zumindest auf der Lead-Plattform PlayStation 5 – auch wenn die etwas hüftsteifen Animationen des Erweckten und seiner Gang die 2011er-Herkunft nicht ganz verleugnen können. Hier hätten die Entwickler das aus der PS3- und 360-Generation stammende Grundgerüst gerne stärker überarbeiten dürfen. So RICHTIG genervt hat uns allerdings das Ausbleiben einer deutschen Tonspur: So richtig viel Vertrauen hatte Capcom dann wohl doch nicht in (Massen-)Markt-Tauglichkeit seines sperrigen Siegfried.

 

Note: 8.0 (GUT)

 


WERTUNGEN: 1.0, 1.5, 2.0 = ungenügend • 2.5, 3.0, 3.5 = mangelhaft • 4.0, 4.5, 5.0 = ausreichend • 5.5, 6.0, 6.5 = befriedigend • 7.0, 7.5, 8.0 = gut • 8.5, 9.0, 9.5 = sehr gut • 10 = bahnbrechend