Kritik: Watch Dogs

Grand Hack Auto

 

Der Feind aus dem Innern: Mit seinem Hacker-Thriller "Watch Dogs" will Ubisoft Besitzern von PC, Xbox 360, Xbox One, PS3 oder PS4 die Adventure-Bibel der 'Generation Smartphone' bescheren. Die setzt visuell und Feature-seitig zwar ein paar interessante Marken, hat aber leider weder viel Persönlichkeit noch den nötigen Charme.

 

Calypso Rawlins ist 29, Pflegemutter, arbeitet als Pfandleiherin und hat ein Jahreseinkommen von 41.800 Dollar. Richard Follett ist 31, hat vor kurzem Highschool-Schläger attackiert, arbeitet aktuell als Zeitungsbote und verdient 26.400 Dollar im Jahr. Und 1.400 Dollar davon hebt „Watch Dogs“-Held Aiden Pearce gleich an einem Bankautomaten seiner Wahl ab. Der Trick dabei: Mit seinem Handy hat der Meister-Hacker Zugriff auf die komplexe Computeranlage in seinem Versteck, und die wiederum ist mit dem ctOS verbunden – dem allgegenwärtigen und allwissenden Computer-Netzwerk von Chicago, das von Wasserversorgung bis Müllabfuhr alles reguliert und kontrolliert. Indem der Computer-Schleicher das ctOS austrickst, hat er Zugriff auf alle Personen-Informationen, kann von Beobachtungskamera zu Beobachtungskamera springen, Hydranten explodieren lassen, Ampeln ausknipsen, Tore wie von Geisterhand bedienen und noch jede Menge andere Kunststücke vollbringen – und das mit nichts weiter als seinem Handy.

 


 

Damit spielt das jüngste „Open World“-Game von Ubisoft Montreal („Assassin‘s Creed“) direkt auf die digitale Spionage-Paranoia der heutigen Zeit an: In einer Welt, in der jede Information über die internationalen Daten-Highways geschleust und in den gigantischen Server-Farmen von Google, NSA und Facebook archiviert wird – da sind Begriffe wie „Privat“ oder „Intim“ nur noch wehmütige Erinnerungen an die Zeit von Pappe, Papier und greifbarem 'Organizer'.

Ganz so dicht, allumfassend und damit auch angreifbar wie in Ubisofts „Watch Dogs“-Chicago ist das digitale Netz heute noch nicht – doch mit Hilfe seines maskierten Antihelden Aiden mahnen die Entwickler zur Vorsicht.

 

 

Der in einen abgewetzten, wallenden Ledermantel gehüllte Held verbirgt sein Gesicht die meiste Zeit über hinter einem Schal und dem Schirm einer Baseball-Mütze – das Resultat ist eine schemenhafte Figur, irgendwo zwischen den Assassinen aus der bekannten Meuchler-Mär des Herstellers, den Martial-Arts-Agenten aus "Matrix" und den Masken-Heinis der Anonymous-Bewegung. Doch die Spiel-Designer prangern nicht nur den Kontrollwahn der Regierung an – auch die vermeintlich liberal eingestellten Computer-Rebellen müssen sich Kritik gefallen lassen. So ist Held Aiden alles andere als eine Lichtgestalt: Er setzt seine Fertigkeiten vor allem zur Selbstbereicherung ein – und als ihm eines seiner Opfer auf die Schliche kommt, da gerät seine eigene Familie ins Fadenkreuz. Die sechsjährige Nichte verliert seinetwegen ihr Leben – darum befindet sich Aiden jetzt auf einem Rachefeldzug, den er selbst verschuldet hat. Und um die Mörder seines Mündels zu finden, ist ihm fast jedes Mittel recht: Der Hacker nutzt das Computer-Netzwerk, um sich die notwendigen finanziellen Mittel zu ergaunern, Autos zu knacken, Sicherheitssysteme zu umgehen oder die Straße in ein buchstäbliches Minenfeld zu verwandeln, auf dem Flüchtende von Dampfventilen gekocht bzw. Explosionen zersprengt werden und unter fehlgeleiteten Autos landen.

 

 

All das funktioniert in "Watch Dogs" auf Knopfdruck: Hacken, Informationen beschaffen, Stehlen und Töten ist hier so einfach, dass echten Hackern die Haare zu Berge stehen und Gewalt-Allergiker die Nase rümpfen – denn die Brutalität in Ubisofts Cyber-Chicago erschreckt nicht mit Pixelblut oder abgetrennten Körperteilen, sondern durch die spielerische Leichtigkeit, mit der sie hier ausgeführt wird und in wuchtigen Resultaten gipfelt. Sobald Aiden sein Smartphone zückt, ist jeder Mensch nur noch eine virtuell etikettierte Datensammlung und die ihn umgebende Stadt ein Sammelsurium aus digitalen Interaktions- und Tötungs-Optionen, die man lediglich zu passieren und dann per Button zu aktivieren braucht. Dieses Ballett des Todes zu beherrschen, das ist zwar keine große Kunst – doch die zahlreichen Experimentier- und Kombinations-Möglichkeiten machen es ebenso wie die rasante Gangart des Spiels dann doch noch zur Herausforderung. Denn wenn Aiden nicht gerade rennt oder aus der Deckung heraus mit Pistole bzw. Sturmgewehr um sich ballert, dann sitzt er hinter dem Steuer eines (meist geklauten) Wagens und kreuzt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch das weit verzweigte Verkehrsnetz der Metropole. Das funktioniert zwar nicht so gut wie in in einem "GTA 5", doch die Komponente des hackbaren Verkehrsnetzes gibt den städtischen Parcours eine reizvolle Note. Doch auch ohne das Steuer in den Händen ist Aiden nicht ungeschickt: Eine "Assassin's Creed"-verwandte 'Free-Roam'-Button-Kombi lässt ihn geschmeidig über Hindernisse hechten und über Mauern bzw. Zäune kraxeln. Ganz so muskulös wie die mittelalterlichen Sektierer ist er allerdings nicht: Aiden taugt nicht zum Fassaden-Kletterer oder Parcours-Meister – vor Häuserwänden heißt es für den Hacker erstmal "Stop!". 

 


 

Dass "Watch Dogs" trotz des neuartigen Hack-Features und seines prachtvollen, mal von Licht, mal von Regenschauern durchfluteten High-Tech-Mekkas nicht der erhoffte Virtual-Reality-Thriller für die Generation Smartphone geworden ist, das liegt vor allem an einem chronischen Persönlichkeits-Mangel: Die tumb erzählte Rachegeschichte kann das Abenteuer ebenso wenig tragen wie das in digitaler Schönheit erstarrte Chicago, das zwar die Detail- und Feature-Wut, nicht aber die Spiel-Lust befriedigt. Kurzum: "Watch Dogs" funktioniert immer so lange, wie man sich ganz auf seinen beeindruckenden Katalog aus digitalen Fiesheiten einlässt, um mit ihrer Hilfe Missionen zu bestreiten und das Regelwerk der Stadt zu beugen. Doch als Erzählung und als Schauplatz bietet Aidens Abenteuer allzu oft nur ernüchterndes Mittelmaß. Hier wird bei einer potentiellen Fortsetzung hoffentlich nachgebessert – dann kann der Meister-Hacker vielleicht doch noch sein volles Potential entfalten und aus dem übermächtigen "GTA"-Schatten treten. Schön wären dann allerdings auch ein übersichtlicheres Missions-System bzw. eine gemächlichere Einführung in das gerade anfangs unübersichtliche Feature-Dickicht.

 

Schöne Ergänzung: Smartphone- bzw. Tablet-Besitzer können kostenlos die App "ctOS Mobile" laden und mit ihrer Hilfe gegen "Watch Dogs"-Spieler antreten. Die wollen per Auto von Checkpoint zu Checkpoint entkommen, die App-Nutzer hetzen ihnen Streifenwagen auf den Hals und aktivieren Fallen in ihrer Nähe.

 

(7.5 von 10 / "gut")


Ubisoft Montreal • ab sofort für PC, Xbox 360, Xbox One, PS3, PS4 (WiiU-Version folgt) • ca. 60 Euro • ab 18 Jahren • für Fortgeschrittene und Profis


WERTUNGEN: 1.0, 1.5, 2.0 = ungenügend • 2.5, 3.0, 3.5 = mangelhaft • 4.0, 4.5, 5.0 = ausreichend • 5.5, 6.0, 6.5 = befriedigend • 7.0, 7.5, 8.0 = gut • 8.5, 9.0, 9.5 = sehr gut

10 = legendär