Alle Jahre wieder läuten die Messeglocken. Dann strömen all die kleinen und die nicht so kleinen Schäfchen in die heiligen Hallen, um sich vor Anbieter-Altären bzw. Anspielstationen in den Staub zu werfen und sich in div. Pressekonferenzen brav gen Wosten zu verneigen. Meistens läuft das Ganze ziemlich dogmatisch ab: Frei nach dem Motto "Unsere jährlich Forsetzung gib uns heute" werden seit Jahren etablierte und routinierte Rituale abgespult. Hier betet man zum großen "Uncharted", entzündet bedächtig Kerzen unter dem "Assassin's Creed"-Schrein und rezitiert vor einem Bildnis der heiligen Lara ein paar Psalme aus dem Gebetsbuch (Smartphone-Edition). Eigentlich ist das Programm so berechenbar, dass man sich die ganze Veranstaltung sparen könnte. Warum die Spiele nicht einfach so vorstellen – und zwar wann immer es dem jeweiligen Publisher passt?
Die Antwort ist einfach: Es geht um das Hype-Moment – darum, dass zu einem bestimmten Termin im Jahr (oder eben zwei Terminen) das Aufmerksamkeitsfenster extra weit aufgerissen wird. Es geht um die Festlegung eines "Jetzt gilt's!"-Termins – damit jeder, der sich für das Medium erwärmt, wie gebannt vor dem Computer sitzt und jedes noch so kleine Fitzelchen Information gierig aufsaugt.
Dass das Interesse an der diesjährigen E3 besonders groß war, das kommt nicht von Ungefähr: Seit fast zwei Jahren liegt die Games-Branche jetzt im Dornröschen-Schlaf – und das Publikum wartet ungeduldig darauf, dass die inzwischen längst nicht mehr so 'nextige' Next-Gen endlich in die Gänge kommt. Wo sind die großen technischen und spielerischen Innovationen? Wo die neuen Marken, die für den Anbruch einer neuen Geräte-Generation immer wieder vesprochen worden sind? Vor allen anderen war es Ubisoft-Chef Yves Guillemot, der ständig betont hat, dass sich besonders das erste, frühe Zeitfenster im Lebenszyklus einer neuen Geräte-Generation dafür eignet, neue Brands aufzubauen. Und gerade seine Firma bleibt uns diese neuen Brands schuldig: Jährliche "Assassin's Creed"-Inkarnationen, Tom-Clancy-Spiele – in der Zeit von explodierenden Produktions-Budgets geht man lieber auf Nummer Sicher. Sogar kleine engagierte Liebhaber-Projekte wie ein neues "Valiant Hearts" oder das ebenfalls mit dem "Ubi Art Framework" konstruierte "Child of Light" hat man dieses Jahr vergebens gesucht. Die größte Innovation, das war eine open-worldige Verbrecher- und Gauner-Jagd, trendige Vehikel und Gleitschirm inklusive – die Tom-Clancy-Version von Square Enix' "Just Cause".
Ein paar Überraschungen gab's auch – doch von vielversprechenden neuen Marken wie dem unter Regie von Keiji Inafune entstandenen "Recore" oder dem PS4-exklusiven "Horizon: Zero Dawn" hat man uns
nicht mehr gezeigt als schicke Render-Trailer. Das gefeierte Wiedersehen mit alten Bekannten wie dem in der Endlos-Entwicklungsschleife gefangenen "Last Guardian" oder Suzukis "Shen Mue 3" sind
für Liebhaber eine fantastische Nachricht – doch gleichzeitig sind sie die Wiederbelebung von Armutszeugnissen, die den Kunden als platten Stoffel und die Industrie als gesichtslose
Stoffel-Bedienmaschine entlarvt. "Shen Mue 3" konnte bisher nicht entstehen, weil keine ausreichend große Zielgruppe und damit auch kein Publisher-seitiges Interesse an einer derart teuren
Produktion bestand. "Last Guardian" wiederum ist das traurige Zeugnis dafür, dass japanische Traditions-Teams aus der Ära PS2 den Sprung auf die letzte Konsolengeneration nicht oder zumindest nur
bedingt geschafft haben. Nach jahrelangem, erfolglosem Rumgebastel erhielt das Team endlich Unterstützung von westlichen Sony-Studios, bevor der Titel schließlich halb-offiziell auf Eis gelegt
wurde. Die Wiederbelebung des mythischen Federviehs ist zwar erfreulich – doch letztlich zeigt sie auch, dass es für engagierte Konzepte im Blockbuster-Format kaum noch Platz gibt. Die "Doch
noch"-Präsentation des Abenteuers von "Shadow of the Colossus"-Macher Fumito Ueda ist eine taktisch kluge Schadensbegrenzung, die jetzt als Prestige-Projekt verkauft wird. Genauso wie "Shen
Mue 3", für das man erst den offiziellen Startschuss abfeuerte, nachdem man zuvor bei 40.000 Kickstarter-'Backern' über zwei Mio. Dollar erbettelte – und die müssen wohl bereits geahnt haben,
dass zwei oder drei Mio. Dollar niemals reichen würden, um ein Projekt vom Kaliber eines "Shen Mue" zu finanzieren. Das hat bereits 1999 um die 70 Mio. Dollar gekostet – und dafür gibt es heute
keinen ernstzunehmenden AAA-Titel mehr. Kickstarter diente hier also nicht der Finanzierung – vielmehr wurde es von Sony als Hype-Generierer, Hype-Barometer und Marktforschungs-Tool
benutzt.
Beide Titel – "Shen Mue 3" und "Last Guardian" – erwecken den Eindruck potentieller Mega-Seller, weil ihre Unterstützer im Netz viel Furore machen. Genauso wie diejenigen, die ein "Dark Souls"
oder "Bloodborne" feiern. Dass sich all diese Spiele nach heutigen Maßstäben bestenfalls mittelmäßig verkaufen, das verrät ein kurzer Blick auf vgchartz. Bei einer knappen Mio. verkauften Einheiten dürfte ein "Bloodborne" angesichts seiner bombastischen Production Values und teurer
Werbe-Kampagne keine nennenswerten Gewinne einfahren – falls überhaupt.
Es handelt sich hier um nicht mehr und nicht weniger als Prestige-trächtige Experimental-Produktionen. Da Sony als Plattform-Halter keine teuren Lizenzgebühren abführen muss, kann man die
Verkaufszahlen hier etwas entspannter sehen als bei den Drittanbietern – aber dieser Faktor allein macht aus einem mäßig verkauften Titel noch immer keinen Superhit. Aber vielleicht schafft es
ein solches Spiel, die Reputation der Plattform auf ein Level zu hieven, der sie z.B. für die Drittanbieter attraktiver macht. Die "Call of Duties", "Battlefields" und "Fifas" dieser Welt spielen
das große Geld ein – aber die Vorzeigeprojekte ebnen ihnen den Weg und sorgen dafür, dass eine Plattform von einer Aura des Erfolgs und vieleicht auch Anspruchs umgeben ist. Und sie auch in
solchen Medien beschrieben wird, die sich nicht darauf beschränken, Waffen und Fähigkeiten des Ego-Shooter-Multiplayer-Bataillons zu analysieren.
Derart betrachtet hatte die E3 für jeden etwas zu bieten: Neue Marken (auch wenn man noch nicht viel von ihnen gesehen hat), die übliche Fortsetzungs-Breitseite und zumindest die Andeutungen potentieller Innovationen aus dem Indie-Lager – eine Fraktion allerdings, die im Verhältnis zum Indie-Aufgebot der letzten Jahre vergleichsweise dürftig wirkte. Aber dass es um die 'jungen Wilden' in den letzten beiden Jahren ähnlich ruhig geworden ist wie um die AAA-Lieferanten dieser Welt, das ist ja nichts Neues mehr – die Kleinen müssen sich inzwischen ähnlich "rehabilitieren" wie die Großen. Auf der E3 2015 stand man in der Pflicht, das angeschlagene Vertrauen der Kunden wieder aufzubauen – und das ist zumindest im Ansatz gelungen. Vor allem Sony hat gezeigt, dass man weiter auf Core-Gamer-Kurs setzt und bereit ist, in neue Marken zu investieren. Microsoft hingegen wirkte – trotz vielversprechender Neuerungen wie "Recore" – etwas verfahren, wie aufgerieben zwischen seiner PC-Tradition auf der einen und seiner Konsolen-Kundschaft auf der anderen Seite. Man verwandelt das altehrwürdige "Fable" in eine Free2Play-Multiplayer-Maschine, macht aus der "Halo"-Kampagne ein Koop-Aufgebot, bewirbt die Kommunikationsfreudigkeit der Spiele-Hardware mit Windows10-gesteuerten PCs bzw. Windows-Phones und präsentiert die "Doch noch"-Abwärtskompatibilität in Richtung Xbox 360 als Erdrutsch-artige Neuerung. Hätte sich der Konzern nicht vor wenigen Jahren durch eben diese Art von Politik mit Anlauf in die Nesseln gesetzt, wären derlei Ankündigungen eine schöne Idee, eine willkommene Ergänzung des Programms. Doch angesichts der heutigen Stimmung sollte man so etwas wie ein F2P-"Fable" oder ein ähnlich gepoltes Rare-Projekt lieber peinlich berührt unter den Teppich kehren. Zuerst die Fans dabei zusehen lassen, wie man noch mal die liebgewonnenen Klassiker aus besseren Rare-Zeiten Revue passieren lässt, um sie dann durch die Präsentation von Mehrspieler-Gehampel zu entweihen – das wurde vermutlich nur deshalb nicht mit Fackel- und Heugabel-Schwenkerei beantwortet, weil kurz zuvor durch die Ankündigung von "Recore" genug Endorphine ausgeschüttet wurden und kein einziges Mal die Phrase "… durch die Power von Kinect" gefallen ist.
Dass Nintendo wiederum gleich ganz auf eine Pressekonferenz verzichtete, das war zwar ein kluger Schachzug – doch noch klüger wäre es wohl gewesen, das 'Aufmerksamkeitsfenster E3' gleich ganz und
gar ungenutzt verstreichen zu lassen. Denn mit dem an sich liebevoll produzierten 'Digital Event' erreichte man vor allem eins – man verärgerte die Fans. Nach der mit Skepsis beäugten
Entscheidung des Herstellers, sich auf die Smartphone- und Tablet-Welt einzulassen, war die eingeschworene Nintendo-Gemeinde hochsensibel – darum wirkte das von Vermultiplayerung geprägte
Aufgebot des Herstellers und das Ausbleiben einer wirklich bemerkenswerten Neuerung umso katastrophaler. Die Reaktionen der Nintendo-Community beweisen aber vor allem eins: Dass man – vermutlich
aus reiner anerzogener Gewohnheit – dem Event E3 heute mehr Bedeutung beimisst als er noch hat. Das Blockbuster- und Konsolengeschäft verläuft heute deutlich unberechenbarer und asymmetrischer
als es noch vor einigen Jahren der Fall war, auch die "Vor-Ort-Zusammenkunft" der aus aller Herren Länder angereisten Fach-Besucherschaft verliert im Zeitalter von Internet-Streams, Youtube und
fast schon minutiös stattfindender Berichterstattung zusehends an Bedeutung. Die E3 ist inzwischen wenig mehr als eine aktuelle Bestandsaufnahme – doch weil jeder durch das sperrangelweit
aufgerissene Fenster einen ebenso kritischen wie interessierten Blick wirft, erscheint sie uns noch immer wie die Sorte schicksalhafter Weichenstellung, die sie einmal war. Vor langer, langer
Zeit. Wenn Hersteller wie Nintendo, Sony oder Microsoft hier nicht alles in die Waagschale werfen, was sie noch in der Hinterhand haben – oder ihr Aufgebot dürftig ausbalanciert erscheint… dann
ist das ebenso wenig repräsentativ für die Zukunft wie eine Veranstaltung, die rundum zufriedenstellt. Was, wenn "Last Guardian", "Uncharted 4" und "Horizon" enttäuschen – Nintendo dafür aber
nächstes Jahr eine neue stationäre Konsole aus dem Hut zaubert, die rundum überzeugt? Die Zukunft ist und bleibt ungewiss – doch wir haben leider die unangenehme Eigenschaft, sie vorhersagen zu
wollen und dann in den Rang einer festen Größe zu erheben. Und indem wir den einen hysterisch niederkreischen, während wir den anderen in den Rang eines Helden erheben, zerren wir die
vermeintliche Vision allmählich in die Wirklichkeit. Sie wird zur "Self Fulfilling Prophecy".
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