Verdorrtes Gras, tote Büsche, abgestorbene Bäume – und jede Menge leblose, menschenverlassene Ödnis. Soweit das Auge reicht. So beschwört Bethesda in "Fallout 4" Bilder vom
Untergang. All das wirkt zunächst eher wie das Rezept für gähnenden Langeweile als eine hochkarätige Spaßgranate. Und doch ist das Anti-Märchen von der Welt nach dem großen Knall der am heißesten
erwartete Spiele-Blockbuster des Jahres. Das "Star Wars" der Games-Welt, das ist nicht "Star Wars: Battlefront", sondern "Fallout 4". Denn die Spiele von Bethesda, die versprechen riesige Welten,
in denen man sich frei bewegen und regelrecht verlieren kann. Welten wie die aus "Skyrim" oder eben "Fallout".
Aber die Spiele von Bethesda haben auch so ihre Tücken: Die Rollenspiel-Experten aus Maryland sind weder virtuose Grafiker noch begnadete Techniker. Verglichen mit anderen Genre-Zeitgenossen
wirken die Spiele des Herstellers oft plump, hässlich und ungeschliffen. Bevor man in Welten wie die aus "Morrowind", "Oblivion" oder "Fallout: New Vegas" eintauchen kann, muss man sie sich
regelrecht "schönspielen". Sich auf den häufig kruden visuellen Stil des Abenteuers einlassen und den virtuellen "Papierberg" bekämpfen – denn jedes Bethesda-Rollenspiel besteht auch aus
schwerfälliger und unzugänglicher Bürokratie.
Doch so hoch die Einstiegshürde auch sein mag – die Belohnung dafür, sie überwunden zu haben, die ist umso höher: Wie im Vorgänger geht es nicht um die Geschichte, die der eigene Held und
die Bewohner der verstrahlten Spielwelt zu erzählen haben. Vielmehr geht es um die zahllosen kleinen Stories, die das verseuchte "Wasteland" selber zu berichten weiß. Um all die kleinen
Botschaften, Hinweise und Erzählungen, die im nuklearen Straub der alten Welt verbraben liegen. Vieles davon landet nach dem Aufstöbern naturgemäß im Rucksack des Helden und wird dann in der
Ausrüstungsliste seines "Pipboys" angezeigt. Der ist ein monströses Armband mit archaischem LCD-Bildschirm, über das der Wasteland-Reisende seinen Daten- und Ausrüstungsbestand verwaltet: Was
nicht auf dem Screen des Pipboys erscheint, das existiert auch nicht. Er ist die Schnittstelle zur verstrahlten Realitäts des Spiels. Und wer das Glück hatte, lange genug vor der "Fallout
4"-Veröffentlichung die "Pipboy Edition" des Spiels vorzubestellen, der hat ihn jetzt sogar als leibhaftiges Spiel-Utensil zum Anfassen. Das kommt zwar ohne LCD-Schirmchen, aber dafür lässt sich
das Smartphone einklemmen. Und dann mit der passenden Pipboy-App bespielen: Die schließt sich daraufhin mit Konsole oder PC kurz und entpuppt sich als überaschend praktischer Helfer, der das
Pipboy-Menü im Spiel ersetzt. Der Zusammenbau des Utensils ist arg fummelig geraten, aber das Spielerlebnis selber wird auf diese Weise spürbar gepimpt. Und noch eine gute Nachricht: Auch wer
keinen echten Pipboy hat, der darf die App benutzen.
Weil exzessives Sammeln und Modifizieren einen empfindlichen Teil des Helden-Alltags ausmacht, sollte man sich schon früh mit dem Pipboy anfreunden. Mit ihm und mit dem kleinen "Vault Boy": Das
Comic-Kerlchen ist das Maskottchen von "Vault-Tec" – also desjenigen Konzerns, von dem all die famose Technologie kommt, auf die sich der frisch gebackene Bürger der postatomaren Zukunft
verlässt. Vault Boy prangt seit dem ersten Serien-Teil (1997 für PC) in Anzeigen der Spielwelt, macht es sich auf Plakaten und in Fernseh-Sendungen gemütlich. Und dank Pipboy ist er am Armgelenk
des Helden quasi omnipotent. Er erklärt die Besonderheiten der unwirtlichen Umwelt, vermittelt das Spielsystem und schlüsselt die Funktionsweise der unterschiedlichen Helden-Fähigkeiten auf.
Kurzum: Er ist der Erklär- und Propaganda-Bär der "Fallout"-Welt – ein ständiger Weg- und Werbe-Begleiter, der maßgeblich für die sarkastische und zutiefst selbstironische Tonart des
Rollenspiels verantwortlich ist. Denn in "Fallout" wird der Weltuntergang zwar nicht verharmlost, aber sehr wohl auf die Schippe genommen. Die kaputte Zukunft ist hier ein Spiegelbild unserer
eigenen Welt. Und zugleich eine großartige Anspielung darauf, wie man sich in den 50er-Jahren die Welt der Zukunft und ihren Untergang vorgestellt hat. "Fallout 4" – das ist die Vermischung von
Old-Tech und High-Tech. Hier treffen Bauhaus und Eames auf Steve Jobs.
Überraschend ernsthaft ist der Einstieg ins Spiel: Die letzten Minuten vor dem nuklearen Angriff durch chinesische Aggressoren verbringt der Held zusammen mit Frau und Kind im Kitsch-betonten
Eigenheim. Nur Augenblicke vor dem Fall der ersten Bombe geht's dann auch schon in den "Vault". In diesem gigantischen Luxus-Bunker soll die kleine Familie weiter in Frieden leben können. Doch
dann kommt alles anders: Der Held wird kurzerhand tiegefroreren – und als er ganze 200 Jahre später wieder zu sich kommt, da ist seine Frau tot und sein kleiner Sohn verschwunden. Damit sind
dann auch schon die Weichen für das große Abenteuer gestellt: Der Spieler hilft dem Alter Ego dabei, sein Gefängnis zu verlassen, um an der in Schutt und Scherben liegenden Erdoberfläche den
Sprössling wiederzufinden. Damit verkehrt Entwickler Bethesda kurzerhand das Abenteuer-Motiv von "Fallout 3" in sein Gegenteil: Dort wollte der Sohn den Vater finden – diesmal wird umgekehrt ein
Stiefel draus. Und die erzählerische Prämisse der Entwickler umso deutlicher: Es geht um das Bekannte im Angesicht des Unbekannten. Darum, sich in einer furchteinflößenden, zerstörten Welt einen
sicheren Hafen zu erschaffen. Das passt nicht nur hervorragend zum Rollenspiel-Genre, in dem der Held zwischen seinen Abenteuern immer wieder zur Erholung in seine "Basis" zurückkehrt. Es passt
auch zum neuen Baustellen- und Konstruktions-Modus in "Fallout 4": Hier bastelt der Charakter mit erbeuteten Ressourcen zuerst sein kleines Schrott-Traumhaus – später wird sogar eine ganze
Siedlung aus dem Boden gestampft. Ein Vorort voller dienstbeflissener Friedenswächter, den "Minute-Men". Zwischen all der Ego-Shooter-verwandten Ballerei gegen grunzende und von Pusteln
übersäte Mutanten geht es also vor allem um eins: Um die Heimkehr zur Familie. Darum funktioniert "Fallout 4" trotz aller technischen und visuellen Unzulänglichkeiten auch so gut: Es setzt die
richtigen Schwerpunkte und Kontraste.
Manch einer wird sich trotzdem über den chronischen Mangel an Spielkomfort und Bequemlichkeit beklagen – doch für Gamer der alten Schule ist genau diese Sperrigkeit eine Wohltat. In einer
Zeit, in der sich Spiele immer mehr Mühe geben, so zugänglich und weichgespült wie möglich zu sein, da ist das zickige und kantige "Fallout 4" ein willkommener Anachronismus. Ein Spiel, in dem
man erst tüchtig Dreck fressen muss, bevor man als waffenstarrender, humanoider Panzer durch die Landschaft stapfen darf. In das man sich einarbeiten und in dem man sich anstrengen muss. Sich
durch das System wühlen, um seine Schwächen zu verstehen und es anschließend von innen heraus zu sprengen.
Zugegeben: Das ist ungefähr genauso anstrengend wie es sich anhört – und genau darum passt es auch so hervorragend in diese unwirtliche, trostlose und rundum lebensfeindliche Welt. Gerade
diese zutiefst altmodische Ausrichtung ist die größte Stärke von "Fallout 4". Man muss sich nur darauf einlassen wollen.
Robert Bannert
9.5
sehr gut
Grafik: befriedigend
Sound: sehr gut
Steuerung: gut
Spielspaß: sehr gut