Haus der Erinnerungen: What Remains of Edith Finch


 

Fünf Jahre nach der abstrakten Farbkleckserei aus "The Unfinished Swan" kommt das kalifornische Independent-Studio Giant Sparrow endlich mit einem neuen Adventure aus der Deckung: "What Remains of Edith Finch" bietet auf den ersten Blick ein greifbareres Erlebnis als sein geistiger Vorgänger, ist aber vor allem ein Gleichnis für das Erzählen von Geschichten. Dafür bedient sich der Entwickler einer architektonischen Metapher: Der eigentliche Star des Spiels ist nicht etwa die 17-jährige Edith Finch selber, sondern das Stammbaum-artig angelegte Anwesen ihrer Familie. Das wird jetzt Zimmer für Zimmer gründlich gefilzt und lässt die Protagonistin über spielbare Rückblenden die letzten Augenblicke ihrer verstorbenen Angehörigen erleben.

Aber das nimmt einige Zeit in Anspruch - denn die Villa der Finchs ist ein gigantisches, Spukhaus-ähnliches Konstrukt, in dem fast jeder Raum die Geschichte eines anderen, auf tragische Weise zu Tode gekommenen Familienmitglieds erzählt. Edith selber ist die einzige Überlebende des skandinavischen Clans - und jetzt, Jahre nach dem Tod ihrer letzten Verwandten, kehrt sie ins Elternhaus zurück, um der eigenen Vergangenheit die Stirn zu bieten. Der Familien-Überlieferung nach ist es ein alter Fluch, der dafür sorgt, dass ein Finch nach dem anderen auf unsanfte Weise aus dem Leben scheidet: Vom Blitz erschlagene Teenager, durch Rotwild-Attacken in den Abgrund gerammte Jäger, ein im eigenen Badewasser ertrunkener Säugling und jede Menge andere abstruse bis gruselige Todesfälle ranken sich um den Stammbaum der Finchs.

 



 

Um Ediths Vergangenheit und die ihrer Sippe zu ergründen, erklimmt der Spieler Zimmer für Zimmer das über hundert Jahre alte Herrenhaus. Weil man die Räume der Verstorbenen nach deren Ableben versiegelt hat, sind die meisten nur über Geheimgänge oder durch mit seichten Rätseln gesicherte Umwege zu erreichen: Hier findet Edith schließlich Schriftstücke, Aufnahmen und andere Hinweise, die es ihr erlauben, in die spielbare Erinnerung der toten Familienmitglieder abzutauchen und deren letzte Minuten zu erleben. Auf diese Weist schlüpft sie kurzzeitig in die Haut von Teenagern, Kleinkindern, Familienvätern oder greisen Einsiedlern - kurz bevor Gevatter Tod die Sense kreisen lässt.

Als Geschichte, die zum Nachdenken anregt, funktioniert "What Remains of Edith Finch" ebenso gut wie als Hommage an die Kunst des "interaktiven Storytellings": Das von Büchern und Bildern übersäte Haus ist ein Mausoleum konservierter Erinnerungen, das die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit kunstvoll verwischt und in dem der Spieler die absolute Deutungshoheit über die Geschichte genießt. Wer sich an interaktiven und erzählerischen Experimenten erfreuen kann, für den ist Giant Sparrows Adventure ein Kunstwerk. Wer dagegen ausgeklügelte Gameplay-Mechanismen und eine geradlinige, unverschnörkelte Erzählung schätzt, den wird das tragische Schicksal der Finch-Familie kalt lassen.