Tod allen Kaffetassen: PREY


 

Wie würde unsere Welt heute aussehen, wenn US-Präsident John F. Kennedy 1963 nicht einem Attentat zum Opfer gefallen wäre? Um diese Frage herum hat der französische Entwickler Arkane ("Dishonored") ein retro-futuristisches Alternate-Reality-Szenario konstruiert. Die Antwort des Studios: Während seiner zweiten Amtszeit hat der überlebende Kennedy den Wettlauf ins All erbarmungslos vorangetrieben - eine frühe Besiedlung des Weltraums und kriegerische Auseinandersetzungen mit Aliens waren die Folge. Inzwischen hat man die außerirdischen Gestaltwandler in eine Raumstation im Mond-Orbit gesperrt, um ihre wandlungsfähigen Zellbausteine zu sezieren und auf ihrer Basis eine medizinische Revolution einzuläuten: "Neuromod"-Injektionen, die normalen Menschen fantastische geistige oder körperliche Fähigkeiten verleihen. "Bioshock" und seine ADAM-süchtigen "Splicer" lassen gruselig grüßen.

 

Einer der ersten Neuromod-manipulierten Menschen ist der Wissenschaftler Dr. Morgan Yu: Der sollte eigentlich in seinem gemütlichen Luxus-Appartement auf der Erde aufwachen, stattdessen findet er sich in der von aggressiven Aliens überlaufenen Station Talos 1 wieder. Hier muss er aus der Ego-Perspektive gegen die schemenhaften Invasoren kämpfen, die auf der Station fast jeden Menschen getötet haben und die mit ihren Psi-Fähigkeiten nahezu jede beliebige Form imitieren können - ein Talent, das ihnen den Spitznamen "Mimics" eingebracht hat. So wird eine harmlose Kaffeetasse auf einmal zum vielgliedrigen, kreischenden Kopffüßer aus schwarzem Schatten-Glibber - oder mutiert zum dämonischen, Feuer-spuckenden Alptraum. Unsere Reaktion: Ab sofort wird jeder Becher vorsorglich zertrümmert oder gegen die Wand geschleudert.

 



 

Morgan kontert die Attacken der Aliens zunächst mit dem Schraubenschlüssel - doch rasch gesellen sich Pistolen, Schrotflinten und futuristische Allzweck-Waffen wie das "Gloo"-Gewehr hinzu, das schnell kristallisierenden Schaum verschießt. Die weiße Masse dient ebenso der Isolation von ramponierten Schaltkästen wie dem Löschen von Feuersbrünsten, der Ruhigstellung zappeliger Alien-Angreifer oder dem Bau improvisierter Brücken. Aber Vorsicht: In "Prey" herrscht chronischer Ressourcen-Mangel - Gloo-Nachschub und Munition sind ebenso knapp wie Kits zur Instant-Heilung oder dem Aufmöbeln verbrauchter Psi-Energie. Umso wichtiger ist es, dass sich Morgan mit dem ungewöhnlichen Crafting-System der Raumstation anfreundet: Scheinbar nutzlose Objekte wie Bananenschalen, durchgebrannte Platinen oder aus toten Mimics herausgelöste Organe werden mit Hilfe einer massiven "Recycler"-Einheit in ihre Grundbausteine zerlegt und anschließend per "Fabrikator" in nützlichen Nachschub verwandelt. Vorausgesetzt allerdings, man hat vorher den nötigen Bauplan besorgt. Sogar für den Spiel-Fortschritt essentielle Gegenstände wie ein Jetpack fürs Weltraum-Jogging werden auf diese Weise "fabriziert".

Noch wichtiger sind nur die über Talos 1 verteilten Neuromods: Die machen den wehrhaften Wissenschaftler stärker oder smarter und verleihen ihm auf Knopfdruck fantastische Reparatur- sowie Hacker-Fähigkeiten. Später darf er sogar das Talent der Aliens adaptieren, sich in beinahe jeden beliebigen Gegenstand zu verwandeln. Allerdings muss Morgan seine Gegner dafür erst genau untersuchen: Mittels Analyse-Tools nimmt Dr. Yu die extraterrestrischen Invasoren so genau unter die Lupe, dass sich ihm danach neue Talent-Bäume eröffnen.

Wer all diese Möglichkeiten intelligent nutzt, außerdem wissbegierig jedes Schriftstück, jedes Computer-Display und alle Audio-Logs aufsaugt, der wird sich auf "Talos 1" schnell heimisch fühlen und nach rund 30 Stunden eine von zwei unterschiedlichen Abspann-Sequenzen erleben. Schade nur, dass "Prey" trotz gelungenem Art-Déco-Look und fantasievollem Retro-Futurismus nie die atmosphärische Dichte oder prickelnde Hochspannung eines "Bioshock" erreicht, auch hinter dem Studio-eigenen Stealth-Hit "Dishonored" bleibt Morgans Abenteuer zurück: Stattdessen krankt Arkanes Weltraum-Schau an weitgehend eintönigen Shootouts gegen die ständig gleichen, zahnlosen Aliens, erzählerische Längen, einem schwerfälligen Interface und überwiegend blassen Charakteren. Was den Spieler aber trotzdem  bei der Stange hält, das sind der clever ins Stations-Layout integrierte Einsatz von Yus Fähigkeiten und die Möglichkeit, die meisten Situationen mit Hilfe verschiedener Strategien zu lösen. Gerade experimentierfreudige Spieler kommen hier voll auf ihre Kosten – ebenso wie solche, die einen "gepflegten Mindfuck" schätzen.