Keine Angst, ich bin Arzt: "Vampyr" im Test

 

Was darf's denn sein: Blutkonserve oder Lebend-Snack? Für "Vampyr" schickt "Life is Strange"-Macher Dontnod einen von Gewissensbissen geplagten Vampir-Arzt ins London des frühen 20. Jahrhunderts.

 


 

Jonathan Reid steht vor einem Dilemma: Der Antiheld aus dem neuen Rollenspiel von "Life is Strange"-Macher Dontnod ist nicht nur ein gefeierter Arzt, obendrein ist der englische Gentleman mit dem Vollbart ein Vampir. Ob er sich im Angesicht von Patienten für den hippokratischen Eid entscheidet oder stattdessen seinen Blutdurst stillt, das bestimmt den Verlauf eines Abenteuers, in dem Dialoge und Drama die erste Grusel-Geige spielen.

Im Grunde will Reid als ehemaliger Front-Arzt vor allem eins: Menschen helfen. Doch kurz nach seiner Ankunft im von einer Epidemie heimgesuchten London wird der Lebensretter Opfer einer Beißattacke - und als er Stunden später in einem Massengrab wieder zu sich kommt, ist er zum Blutsauger mutiert. Auf der verzweifelten Suche nach Antworten lernt das frischgebackene Kind der Nacht nach und nach seine neuen Fähigkeiten kennen, inzwischen arbeitet der berühmte Mediziner in einem Krankenhaus. Für einen Vampir eine perfekte Tarnung: Hier findet er entweder Nachschub an frischen Blutkonserven oder menschlichen Opfern - abhängig davon, auf welche Art und Weise sich der neugeborene Vampir durchschlagen will. Je nachdem, wie rabiat Reid bei seinen Nachforschungen vorgeht, entwickelt sich das Abenteuer in den nächtlichen Straßen und Gassen des spätviktorianischen Londons nämlich anders: Wer sich bei der Blutbank bedient oder Ratten anzapft, der kann zwar seinen Hunger stillen, aber die Entwicklung der übernatürlichen Vampir-Talente liegt bei dieser Vorgehensweise weitgehend brach. Entscheidet man sich allerdings dafür, regelmäßig einen von Londons Bewohnern zur Ader zu lassen, wird zwar die Entwicklung beschleunigt, doch die Auslöschung eines Menschenlebens wirkt sich negativ auf das fragile Sozial-Geflecht der Stadtviertel aus und hemmt dadurch die weiteren Recherchen.



 

Merke: Tote reden nicht - und die Angehörigen einer sozialen Gruppe werden auch nicht unbedingt gesprächiger, wenn ihr Umfeld immer stärker ausdünnt. So kann eine leer geschlürfte Bar-Keeperin zum Beispiel keine Informationen mehr über den Bar-Besitzer ausplaudern. Als Folge bleiben beim späteren Plausch mit dem Wirt wertvolle Dialog-Optionen verschlossen, die Reid bei seiner Suche geholfen oder neue Missionen eröffnet hätten. Vernachlässigt man zugunsten des menschlichen Ökosystems die gesunde Ernährung allerdings zu sehr, bleibt Reid eine schlaffe Blutwurst, die es mit den stärkeren Feinden im Spiel nicht aufnehmen kann. Denn obwohl Dontnods Horror-Abenteuer vor allem von seinen ausschweifenden und spannend geschriebenen Gesprächen lebt, kommt auch "Vampyr" nicht ohne Kampfsystem aus. Das Echtzeit-Gehacke mit Nahkampfwaffen, archaischem Schießgerät und monströsen Vampir-Kräften ist allerdings reichlich hakelig geraten: Wer seinen Blutsauger nicht ordentlich stärkt, der wird über das fummelige und hektische Knöpfchen-Drücken früher oder später verzweifeln.

Ganz ähnlich verhält es sich, wenn es um die Erkundung der Stadt geht, denn für einen Vampir ist Jonathan Reid erstaunlich unbeweglich: So kann der Doktor mit den spitzen Eckzähnen weder klettern noch sich über Geländer oder Mauern schwingen und beim Sprung nach unten rauscht er steif wie ein Brett dem Boden entgegen. Wer also ein Vampir-Abenteuer sucht, bei dem er mit einem Raubtier-flinken und geschmeidigen Monster einen riesigen Open-World-Schauplatz durchforstet, der ist bei "Vampyr" an der falschen Adresse: Dontnods Version der britischen Metropole wirkt wie ein Adventure-Stillleben, das man erst nachträglich um ein Echtzeit-Kampfsystem ergänzt hat.

Kann man sich allerdings damit anfreunden, dass "Vampyr" bei Dynamik und Kampfsystem patzt, bekommt man eine einfühlsam erzählte und angenehm flexible Geschichte, die so viel plumpe Action eigentlich gar nicht nötig hätte.

 

NOTE: gut