Große Denker, grimmige Spartiaten, mediterranes Klima, schlecht gelaunte Götter und natürlich leckeres Lamm am Spieß: Mit "Odyssey" - namentlich angelehnt an Homers Ilias-Geschichten über
die Irrfahrten von Odysseus - verlegt Ubisoft seine prominente Meuchler-Mär "Assassin's Creed" vom Nil ans Mittelmeer. Während sich Rollenspieler dabei über eine Intensivierung der bereits in
"Origins" eingeführten RPG-Elemente freuen, wagen sich Wasserratten als Kapitän ihrer eigenen Galeere aufs Mittelmeer. Doch vor allem dürfen sich Serien-Fans dabei zum ersten Mal für das Spiel
als weiblicher oder männlicher Assassine entscheiden - und das bereits bei Spielstart.
Wirklich neu ist die Helden-Doppelspitze allerdings nicht - immerhin konnte man bereits in "Syndicate" nahezu beliebig zwischen den beiden Gangster-Assassinen Jacob und Evie Frye wechseln. Doch
nachdem man Bayeks Frau Aya in "Origins" zum zwar emanzipierten, aber leider nur gelegentlich spielbaren Sidekick degradierte, gibt es jetzt mit Kassandra endlich wieder eine starke und rundum
spielbare Meuchel-Dame. Alternativ stürzt man sich als ihr Bruder Alexios ins Getümmel - dem Spiel selber ist es herzlich egal, in wessen Sandalen man Fassaden empor klettert, das Schwert
schwingt oder feindliche Schiffe entert. Abgesehen von einigen dezent umgeschriebenen Dialogen und veränderter Anrede behandeln die "Odyssey"-Bewohner nämlich beide Spieler-Avatare
gleichberechtigt - tatsächlich interessieren sich sogar dieselben potenziellen Liebes-Gespielinnen und -Gespielen für die beiden. Allerdings erweist sich Kassandra schnell als die dezent
sympathischere Figur - einer treffsicheren Mixtur aus triefendem Sarkasmus, Schlagfertigkeit und weiblicher Fürsorglichkeit sei Dank, der die junge Spartanerin zur stärksten Serien-Persönlichkeit
seit Altair macht.
Schade nur, dass sich Kassandra ebenso wie ihr Bruder in der von Mythen und Familien-Dramen getragenen Geschichte trotzdem nicht immer richtig entfalten kann, weil sich Ubisoft wie gewohnt in
allerlei erzählerischen Widersprüchen verzettelt. Aber sei's drum: Einmal mehr ist es nicht die Story, die das Abenteuer trägt - der eigentliche Star ist und bleibt der gigantische,
Detail-gespickte Open-World-Kosmos, den Kassandra oder Alexios entweder zu Fuß, auf dem Rücken eines Pferdes oder auf dem Kommando-Stand einer waffenstarrenden Kriegsgaleere bereisen. Dabei sieht
"Odyssey" der "Origins"-Welt über weite Strecken naturgemäß zum Verwechseln ähnlich: Schließlich spielte Bayeks Abenteuer zur Zeit des ptolemäischen Ägyptens, als die Griechen dem Land der
Pharaonen längst ihren kulturellen Stempel aufgedrückt hatten. Darum ist es zwar schade, aber durchaus verständlich, dass Ubisoft einige Grafik-Bausteine direkt aus dem Vorgänger-Spiel übernommen
hat.
Dass sich das antike Ubisoft-Griechenland trotzdem dramatisch anders anfühlt wie Ägypten, liegt vor allem an seiner geografischen Beschaffenheit: Hier gibt es weniger weite Flächen, dafür aber
umso mehr Berge und jede Menge Wasser dazwischen. Entsprechend nutzlos erscheint das wackere Streitross, denn zu Fuß und kletternd kommt man meist wesentlich fixer voran. Unerlässlich ist auch
der Umstieg auf die Galeere, die hier ein bisschen "Black Flag" ins Spiel bringt. Mitsamt aufrüstbarem Schiff, effektvollen Seeschlachten, auf den Wellenkämmen tanzendem Treibgut, packenden
Tauchgängen und rekrutierbaren Seeleuten.
Ansonsten hält das Spiel den bereits im alten Ägypten eingeschlagenen Kurs: Wie "Origins" gibt sich auch "Odyssey" alle Mühe, selbst gestandenen Profi-Assassinen eine gesunde Herausforderung zu
bieten - noch härteren Kämpfen, mehr Rollenspiel-Elementen und einem neuen Erkundungs-Modus sei Dank. Wer letzteren aktiviert, der verzichtet erstmals auf die sonst üblichen Karten-Markierungen
und macht sich stattdessen selber auf die "Crepidae", um neue Aufträge zu finden oder der Spielwelt ihre Geheimnisse abzuringen. Doch die Versuchung, die Symbole wieder einzuschalten, um in der
überfüllten Spielwelt nicht unnötig viel Zeit zu verplempern, wird schnell übermächtig.
Doch ob mit oder ohne derartige Stützräder: Wer noch gelegentliche Slowdowns und ein paar Karten-Bugs verschmerzen kann, der erlebt eine traumhaft schöne Odyssee ins Altertum. Die reicht zwar
nicht ganz ihren überragenden Vorgänger heran, ist aber sonst alles andere als spartanisch.
Note: 8.5 (SEHR GUT)
WERTUNGEN: 1.0, 1.5, 2.0 = ungenügend • 2.5, 3.0, 3.5 = mangelhaft • 4.0, 4.5, 5.0 = ausreichend • 5.5, 6.0, 6.5 = befriedigend • 7.0, 7.5, 8.0 = gut • 8.5, 9.0, 9.5 = sehr gut • 10 = bahnbrechend
PERSÖNLICHE MEINUNG (Robert Bannert)
"Assassin's Creed" gehört seit dem ersten Teil zu meinen Lieblingsserien – und während dieser Zeit habe ich der Reihe so einiges verziehen… sogar das von vielen wegen seiner Bugs verfluchte "AC Unity" fand ich klasse, das ziemlich untergegangene "Syndicate" ebenfalls. Umso mehr habe ich mich gefreut, als die Serie nach ungewöhnlich langer Pause mit "Origins" wieder erstarkt auftrumpfen konnte. Trotzdem finde ich, dass man nach "Odyssey" unbedingt wieder eine Pause einlegen sollte. Ja, viele loben diesen Teil sogar mehr als "Origins", ich finde ihn dezent schwächer. Was beileibe kein Beinbruch ist – denn ein "bisschen schwächer" als "Origins" ist immer noch gut genug, um mit der wieder mal riesigen und prachtvoll ausstaffierten Spielwelt für viele Wochen oder Monate Spaß zu haben! Das alte Griechenland ist malerisch, idyllisch und einfach wunderschön. Die Seeschlachten machen - obwohl sie etwas hinter denen von "Black Flag" zurückbleiben - immer noch unglaublich viel Spaß… und obendrein ist mit Kassandra sogar eine angenehm charakterstarke Heldin an Bord. Trotzdem schleifen sich bei "Odyssey" einige unliebsame Probleme ein, die der Serie vor "Origins" bereits Probleme bereitet haben: Die Reise ins alte Griechenland ist einfach nicht so sauber ausgeführt und Bug-frei wie der Ägypten-Trip, obendrein wurde einiges an Asset-Recycling betrieben, ist die Spielbalance mitunter arg holprig geraten und der an sich willkommene Einfluss auf die Entwicklung der Spielwelt nicht konsequent zu Ende gedacht. Kurzum: Auch dieser Teil macht richtig Spaß – aber teilweise wirkt er auf mich doch etwas unfertig. Hoffentlich schaffen künftige Updates Abhilfe.