Endzeit-Botenjunge mit mobiler Kinderkrippe: Death Stranding


 

Durch die Endzeit latschen, das Baby beruhigen, sich den Rücken krumm schleppen und massig Menüs wegklicken: So lässt sich Hideo Kojimas "Death Stranding" zusammenfassen. Aber steckt auch noch mehr dahinter?

 

KRITIK • PS4 • Hügel voller satter, grüner Wiesen, Moos-bewachsener Steine und schroffer Felsformationen, die sich bis zum Horizont erstrecken. Mitten drin ein einsamer Wanderer – gehüllt in einen Astronauten-ähnlichen Overall und mit einem rundlichen Tornister auf der Brust, aus dem ein leises und protestierendes Quengeln dringt. Auf seinem Rücken trägt der schwitzende und durch die Landschaft hastende Wanderer ein quietschendes und ächzendes Gestell, auf dem sich ein fast schon lächerlich großer Haufen aus Tornistern, Koffern, Paketen und Kassetten stapelt. Alle paar Schritte gerät der Mann bedrohlich ins Taumeln, läuft und stolpert ein paar Meter… droht unter der Last zusammenzubrechen… und fängt sich im letzten Moment wieder. Schließlich traut er sich mitsamt seiner Fracht in einen reißenden Fluss. Arbeitet sich prustend und ächzend von einem aus der Wasseroberfläche ragenden Felsen zum anderen, damit er im Schutz der Steine kurze Verschnaufpausen einlegen kann, ohne von der Flut mitgerissen zu werden. Auch diese Hürde schafft er schließlich: Fst am Ende seiner Kräfte kommt er am anderen Ufer an – und einige hundert Meter weiter sieht er endlich sein Ziel: ein rundliches und vorne spitz zulaufendes Gebäude, das wie ein schillernder Fremdkörper aus dem Geröll und Gras am Fuße eines Hügels ragt. Der Anblick des nahen Paketzentrums verleiht dem erschöpften Wanderer neue Zuversicht: Ein Lächeln stiehlt sich auf seine verhärmten und ausgemergelten Gesichtszüge, als er im Angesicht des nahen Ziels neue Kräfte mobilisiert. Jetzt nur noch vorsichtig einen letzten Abhang nach unten balancieren – dann kann er die Fracht dem Empfänger übergeben und sich endlich ausruhen.

Also alles gut? Nicht ganz: Der beschwerliche Weg hat die Ausdauer des Endzeit-Paketboten so sehr ausgezehrt, dass er nicht mehr innehalten kann, als es – beschleunigt durch hundert Kilo Fracht – schneller und schneller den Hang hinunter geht. Kurz bevor er das Ende des Hügels erreicht hat, verliert er endgültig die Balance: Strauchelt, stolpert, fällt der Länge nach hinten und rollt die letzten Meter den Hang hinunter, während die bisher so sorgsam gehüteten Sendungen in alle Richtungen purzeln und mit lautstarkem Scheppern gegen die grobe Behandlung protestieren.
Unten angekommen, kämpft sich der Bote unter schmerzerfülltem Stöhnen wieder auf die Beine und schaut sich nach den über die Landschaft verstreuten Kostbarkeiten um – doch das ist im Augenblick nicht sein dringlichstes Problem: Der dunkle Tornister auf seiner Brust wird auf einmal durchscheinend – und hinter dem transparenten Glas kommt ein Säugling samt Nabelschnur zum Vorschein. Das erschrockene Baby schreit und trommelt lautstark weinend gegen den Behälter. Also ignoriert der Wanderer für ein paar Minuten Schürfwunden und Prellungen, um stattdessen beruhigend auf das Kind einzureden und Kontakt zu seinem Schützling herzustellen. Erst als sich sein "BB" wieder beruhigt hat, glücklich vor sich hin gluckst und sich das Glas des mit Nährflüssigkeit gefüllten Behälters wieder schwarz färbt, sondiert der Mann seine Lage. Macht sich daran, die Waren aufzusammeln, ihren Zustand zu überprüfen und sie erneut zu stapeln – in der Hoffnung, dass der ärgerliche Stolperer ihn nicht zu viele "Likes" von Kundeseite kostet.

Willkommen in der Welt von "Death Stranding".

 

Einer Welt, in der Regen die Menschen älter macht, Endgegner-Wale sich durch riesige Teerpfützen wälzen, Regenbögen in umgekehrter Richtung aus den Wolken wachsen und das Jenseits als Folge einer Art übernatürlichen Supergaus im Diesseits gestrandet ist - daher der Name der Geschichte, für die kein Geringerer verantwortlich zeichnet als der japanische Designer-Guru Hideo Kojima. Der unterhält seit seiner Trennung von Ex-Arbeitgeber Konami mithilfe des PlayStation-Herstellers ein eigenes Spiele-Studio - und in Zusammenarbeit mit den holländischen "Horizon: Zero Dawn"-Machern hat er einen ebenso entrückten wie bedrückenden Endzeit-Kosmos geschaffen, der vor allem eins schafft: für Gesprächsstoff zu sorgen.

Denn wenn das ehemalige "Metal Gear"-Mastermind Kojima eines kann, dann Legenden und Hypes um Spiele aufbauen, indem er verklausulierte Nachrichten, verschlüsselten Textschnipsel oder geheimnisvolle Motive streut. Der Maestro wirft den Haken aus - und der Informations-hungrige Gamer-Schwarm beißt an. Bei "Death Stranding" ist das Netz der Verwirrung gleich so dicht, dass vielleicht nicht mal der Schöpfer selber weiß, um was es genau geht. In diesem Fall wäre es der Job des Gamers, die Bedeutung des Werks einzuordnen - eine Aufgabe, die Kojima zufolge fünf Jahre oder länger dauern wird.

 



 

Um aller Komplexität zum Trotz genug Aufmerksamkeit auf das bizarre Spiele-Kunstwerk zu lenken, hat man eine ansehnliche Riege aus Kojima-begeisterten Hollywood-Stars ins Motion-Capture-Studio geladen und in digitale Protagonisten verwandelt: Während die "Sieben-Millionen-Dollar-Frau" Lindsay Wagner als Präsidentin der endzeitlichen USA aufspielt und Regie-Wunderkind Guillermo del Toro ("The Shape of Water") als geschwätziger Technik-Nerd durch die digitale Sphäre irrlichtert, gibt Ex-Bondgirl Léa Seydoux ein nur oberhalb des Halsausschnittes wunderschönes Zeitregen-Opfer. Sogar Late-Night-Talker Conan O'Brien ist - angeblich eher zufällig - bei dem japanischen Studio mit der Tür ins Haus gefallen, um sich für eine Gastrolle digitalisieren zu lassen. Und schließlich schlüpft Charakter-Darsteller Mads Mikkelsen in die zunächst nur sporadisch sichtbare Rolle als mutmaßlicher Vater desjenigen Babys, das sich Hauptdarsteller Norman Reedus auf die Brust schnallt, um mit seiner Hilfe paranormale Bedrohungen sichtbar zu machen und ihnen auszuweichen. Andernfalls droht der Spielwelt eine durch den "gestrandeten Tod" verursache Naturkatastrophe.

Reedus wiederum ist Dreh- und Angelpunkt eines Abenteuers, das ihm Hideo Kojima unübersehbar auf den durchtrainierten Leib geschneidert hat: Die Rolle eines kontaktscheuen und knurrigen Endzeit-Kuriers, der - mit turmhohen Paketstapeln beladen - durch eine trostlose, aber auch wunderschöne Landschaft taumelt, strauchelt und läuft, wurde offenkundig für den "Walking Dead Star" geschaffen. Hat er dann auch noch genug Ressourcen und die nötige Technologie zur Hand, um vom schlauchigen Per-Pedes-Betrieb auf einen futuristischen "Akira"-Feuerstuhl umzusteigen, verschwimmen die Grenzen zwischen Reedus Spiele-Alter Ego Sam Porter Bridges und dem Zombie-Jäger Daryl Dixon zusehends.

Immerhin müssen sich beide durch eine lebensfeindliche Umwelt voller skurriler Phänomene kämpfen, in der sich Gevatter Tod anschickt, die einst gängigen Regeln von Leben und Sterben außer Kraft zu setzen. Auch Hauptdarsteller Sam ist ein Opfer dieser Umstände: Segnet er im Spiel das Zeitliche, wird er an den Titel-gebenden "Strand" gesaugt, um kurz darauf wieder zu sich zu kommen. Damit ist Sam zwar de facto unsterblich - aber auf die Umwelt haben seine Ab- und Wiedergänge mitunter fatale Auswirkungen.

Wirklich gefährlich sind Sams Botengänge durch die postapokalyptischen Staaten demnach nicht - dafür aber ganz schön anstrengend: Um die letzten verbliebenen Städte des Landes wieder miteinander zu verbinden und eine Art paranormales Internet aufzubauen, muss Sam die zu liefernden Pakete sortieren, stapeln und schließlich vorsichtig durch die von schroffen Felsen, Hügeln und reißenden Flüssen durchzogene Landschaft balancieren. Je intakter die Ware beim Empfänger ankommt, desto mehr "Likes" bekommt Sam dafür – die gängige Währung in einer Welt, die zwar vom Netz abgeschnitten ist, aber unverändert in sehnsüchtigen Erinnerungen an Social-Media-, Katzenvideo-Klick- und amazon-Liefer-Orgien schwelgt. Auch die (angenehm unaufdringliche) Multiplayer-Komponente des Titels spiegelt den Wunsch nach Vernetzung wider: So ist es den Spielern zwar nicht möglich, direkt miteinander in Kontakt zu treten – aber dafür dürfen sie selbst konstruierte Objekte wie Leitern, Kletterseile, Brücken oder Briefkästen in der Landschaft zurück lassen, damit auch andere Gamer davon profitieren. Und mit ein bisschen Glück, gibt's auch dafür – genau – Likes.

Indem Kojima die für Videospiele typischen Botengänge von A nach B auf das Wesentliche reduziert, begibt er sich auf die Metaebene dessen, was ein Videospiel eigentlich ausmacht. Und muss sich Sam doch mal gegen eine Bande gewalttätiger Post-Süchtiger wehren, zückt er dienstbeflissen sein Packseil und schnürt die Junkies selber wie Pakete zusammen - deutlicher geht's kaum.

Doch gleichzeitig hält "Death Stranding" den Paketboten Sam Porter Bridges durch eine überbordende Menü-, Feature- und Erklär-Struktur auf Trab: Bevor Sam in seinem Privatraum ausspannen, den Zustand seines Baby-Begleiters prüfen, im Badezimmer Ausscheidungen in Kampfstoffe verwandeln und sich - im Rahmen eines eigenartig aufdringlichen Product-Placements - mit mehreren Dosen Monster-Energie-Drink aufputschen darf, muss er sich durch seitenweise Bestätigungs- und Sortier-Formulare wühlen. Fast so, als wollte Kojima auf diese Weise den Bürokratie-Overkill auf die Schippe nehmen, der unsere Zivilisation und oft auch Videospiele hemmt. Wer also auf angenehm einsames und atmosphärisches Latschen durch ein fremdartiges Endzeit-Idyll hofft, wird (vielleicht bewusst) ge- und enttäuscht: Sam kann kaum zehn Meter zurücklegen, ohne von Kollegen angepingt oder durch Menü-Salat ausgebremst zu werden. Denn "Death Stranding" ist vor allem eins: ein außerordentlich geschwätziges Spiel.

Und ein sehr japanisches noch dazu: Wer hinter die extrem schicke, mit Sony-Millionen finanzierte Blockbuster-Fassade blickt, der entdeckt dort im Kern ein cleveres, aber auch gewöhnungsbedürftiges Independent-Game, das erzählerisch wie inszenatorisch vor allem Motive aus dem japanischen Anime- und Manga-Kosmos bedient - immerhin handelt es sich um ein Hideo-Kojima-Spiel. Wer das Antlitz von Norman Reedus, del Toro und Co. vor seinem geistigen Auge gegen Anime-Gesichter tauscht, der versteht vielleicht etwas besser, was ihn hier erwartet. Kein bequemes Blockbuster-Spiel (auch wenn es so aussieht), sondern ein skurriler und meist anstrengender Gameplay-Grenzgang mit Indie-Schlagseite, auf den man sich bewusst einlassen muss und den nur die wenigsten bis zum (rund 50 Stunden entfernten) Ende durchhalten werden.

 

NOTE: 7.5 (GUT)

 

 


WERTUNGEN: 1.0, 1.5, 2.0 = ungenügend • 2.5, 3.0, 3.5 = mangelhaft • 4.0, 4.5, 5.0 = ausreichend • 5.5, 6.0, 6.5 = befriedigend • 7.0, 7.5, 8.0 = gut • 8.5, 9.0, 9.5 = sehr gut • 10 = bahnbrechend