Preis-Gala oder Marketing-Event? Im Schatten des X-Blocks


 

KOMMENTAR • Stellt Dir vor, Du bist Spiele-Entwickler. Schwitzt Jahr für Jahr bei der Entstehung Deines neuen Produkts, brütest über Design-Entwürfen, Grafiken und Programm-Codes. Vernachlässigst Familie und Freunde und gehst an Deine psychischen sowie physischen Grenzen, um jeden Milliliter Herzblut in das Projekt zu stecken, der Dir noch geblieben ist – nur um Deine Vision zu verwirklichen. Ein Szenario, das vor allem für Indie-Entwickler gilt – wie zum Beispiel die Damen nd Herrn aus dem "Disco Elysium"-Team ZA/UM, die bei den Game Awards 2019 zu den ganz großen Abräumern gehörten. Das ungewöhnliche und stark im Paper'n'Pencil-Kosmos verwurzelte PC-RPG heimste Preise für das besten Rollenspiel, die beste Geschichte, das beste Indie-Game und das beste Indie-Debüt ab. Muss man erstmal hinkriegen – an einem Abend viermal auf die Bühne stolpern. Für Dein allererstes Spiel – und jedesmal bist Du kurz davor, entweder laut loszuheulen oder nur noch unsinniges Zeugs zu stammeln.

 

Und dann stehst Du auf einmal im Schatten eines dicken, schwarzen Alien-Monolithen. So geschehen bei den Game Awards, als aus heiterem Himmel die neue Xbox über allem anderen aufragte: Mit einem Mal waren Preisträger und übrige Neuheiten nahezu vergessen und summte das Internet ebenso wie die anwesende Menge vor neugieriger Geschäftigkeit. "Scarlett" ist out", "Series X" ist in. Wie eine Kreuzung aus Custom-PC und kantigem Macintosh sieht die neue Konsolen-Chassis des Konzerns aus – eine Kreuzung aus Spiele-Nutzen und Lifestyle-Artefakt. Und wer genau hinsieht, der erkennt sogar ein optisches Laufwerk… für dieses befriedigende "Surr-Schlurps-Wooosh"-Geräusch, das wir Kinder der physischen Medien-Generation so sehr schätzen. Also erstmal eine Runde Aufatmen für alle, die sich wie ich durch Downloads und Streaming in ihrer Existenz bedroht fühlen und die ihre digitale Identität lieber an silberne Scheiben als an abstrakte Daten-Kolonnen auf der Festplatte oder Cloud koppeln.

 

Ach ja… übrigens wurde Capcoms "Devil may cry 5" zum besten Action-Spiel gekürt, haben die "Super Smash Bros. Ultimate" eine Auszeichnung für das beste Handkanten-Gewitter abekommen, ist "Luigi's Mansion 3" das beste Familienspiel… ach ja… und hast Du eigentlich die neue Xbox schon gesehen? "Modern Warfare" hat den geilsten Sound, "Death Stranding" die coolste Mucke (also das bisschen zwischen Keuchen, Windheulen und Geister-Gestöhne) und der neben Hideo Kojima einsitzende Norman Reedus ärgert sich gerade schwarz, weil Mads Mikkelsen an seiner statt zum besten Voice-Over- und Motion-Capture-Hampelmann gekürt wurde. Übrigens: Die neue Xbox sieht echt geil aus – woosh, mal schnell ein Bild auf Instagram geposted. Ach so, richtig: Hideo Kojima wird für die beste Games-Regie gestickert – der Spiele-Oscar für Story oder das beste Spiel der Show sind leider schon vergeben. Ätsch. Aber macht ja nix. Die neue Xbox ist sooo cool. Und dann der ganze Multiplayer-Zirkus: "Apex Legends" ist die hartnäckigste Multiplayer-Therapie des Jahres, "Fortnite" ein besonders tolles "ongoing game" (was sich ungefähr so gut ins Deutsche übersetzen lässt wie "Pain in the Ass"), bestes VR/AR-Game ist natürlich "Beat Saber" und ob die Xbox diesmal wohl eine Chance gegen die neue PlayStation hat? Sieht ja immerhin ziemlich geil aus.

 

Merkste was? Ganz genau.

 

Klar, gnädigerweise wurde die Show nicht von Anfang an im Neuheiten-Gewitter erstickt und musste selbst die "Series X" (was im Übrigen ein ganz wunderbarer Name für eine Gerätefamilie, aber eine definitiv echt voll beknackte Bezeichnung für ein einzelnes Stück Hardware ist) brav warten, bevor sie die Aufmerksamkeit des Publikums in alle digitalen Winde zerstreuen durfte. Nur: Was hat Microsofts schwarzer Alien-Block – vielleicht aus perfidem Kalkül dem extraterrestrischen Gottes-Klopper aus "2001" nicht ganz unähnlich – auf einer Veranstaltung zu suchen, auf der schwer schuftende Entwickler für ihre oft kärglich entlohnte Leistung gewürdigt werden und der arme Norman Reedus verdammt noch mal schon aus Prinzip einen Games-Oscar dafür zu kriegen hat, dass er sich über zahllose Spielstunden zum postapokalyptischen Baby-Beschmuser macht?

 

Haben die Hersteller für diese Art von Neuheiten-Gewitter nicht längst ihre eigenen Vermarktungs-Plattformen… wie z.B. die E3? Ist es wirklich sinnvoll, mit schweren Marketing-Geschützen in den Kultur-Betreib rein zu ballern, der sich verzweifelt darum bemüht, Games als ernstzunehmende Kunstform zu etablieren, die sich nicht hinter dem Film zu verstecken braucht, den es zwar – zumindest was Marktvolumen und Umsatz angeht – schon vor langer Zeit abgehängt hat, hinter dem es aber in Bezug auf eine reflektierte, mediale Wahrnehmung  immer wieder zurückstehen muss? Der Film hat mit den Oscars schon lange sein eigenes, weltweit gefeiertes Aushängeschild – hinzu kommen etablierte und aus kultureller Perspektive weit elaboriertere Events wie die Filmfestspiele in Cannes oder Venedig, deren roter Teppich vergleichsweise anspruchsvolle Unterhaltung verspricht und wo vor allem Independent-Filmer ihre Bühne haben. Darum ist es nur logisch, dass auch die Games-Branche entsprechende Veranstaltungen etablieren möchte – in der bangen Hoffnung, dass sie irgendwann vom gleichen popkulturellen Heiligenschein gekrönt werden wie die filmischen Festivitäten. Über Cannes, Venedig und Oscars berichten Tagespresse und TV-Nachrichten wie selbstverständlich – aber die Game Awards? War da was? Sack Reis.

 

Umso wichtiger ist es natürlich, dass die jeweils zuständigen Games-Verbände und ihre Mitglieder – die Garde der Groß-Publisher – üppig Geld in die Veranstaltungen pumpt, damit das Ganze auch ordentlich was hermacht. Im Grund verständlich, dass man es vor diesem Hintergrund als sein gutes Recht ansieht, die derart gesponsorte Plattform auch für seine eigenen Zwecke missbr… äh… nutzen zu dürfen. Schon klar: Wer die Zeche zahlt, der entscheidet, was und wo aufgetischt wird. Zumindest dann, wenn er nicht aus purer Menschenfreundlichkeit, sondern vor allem aus geschäftlichen Gründen handelt. Wie bei den Game Awards der Fall, denn ohne Zuwendungen von Konsolen-Herstellern und AAA-Drittanbietern hätte Host Geoff Keighley die Veranstaltung niemals auf die Beine stellen können.

 

Nur sollten Microsoft, Sony, Nintendo & Co. allmählich zu verstehen beginnen, dass sie sich langfristig keinen Gefallen tun, wenn sie die mutmaßlichen Spiele-Oscars in ein lautes und Effekt-heischerisches Marketing-Feuerwerk verwandeln – denn auf diese Weise wird die Games-Branche auch in 20 Jahren noch als das wahrgenommen werden, was sie für viele ihrer größten Kritiker schon heute ist: ein Milliarden-schwerer Geschäftsbetrieb mit der kulturellen Tiefe eines Einarmigen Banditen und ohne Anrecht darauf, für sich die gleiche popkulturelle Bedeutung in Anspruch nehmen zu dürfen wie der Film.

 

Nicht, dass die großen Filmanbieter in ihrem Verständnis des ihnen anvertrauten Mediums viel besser wären – aber die Oscar-Verleihmaschine der "Academy of Motion Picture Arts and Sciences" sorgt als (halbwegs) unabhängig arbeitende Institution zumindest dafür, dass die Oscars als alljährliche Leitveranstaltung einer gesamten Kunstform und Branche nicht zur REINEN Kommerz-Veranstaltung verkommen. Klar, peinlich sind die Oscars oft genug – doch wenigstens gehört die Bühne den Stars vor bzw. hinter der Kamera… und nicht dem Geschäftsbetrieb. Selbstverständlich thront auch hier König Business über allem – aber der feiste Film-Monarch ist schlau genug, um bei "seiner" Veranstaltung nicht oder wenigstens nur sehr vorsichtig in Erscheinung zu treten. Sonst platzt die Illusion. Und darunter leidet dann wiederum – richtig – das Geschäft.

 

Und die Games-Branche? Die hat das leider noch nicht so ganz verstanden und schießt uns ganz ohne Scheu ihre Böller um die Ohren, während diejenigen, die eigentlich die Stars des Abends sein sollten, im Angesicht des aggressiven "Rahmen"-Programms die Füße stillzuhalten haben. Und aus genau diesem Grund bin ich – obwohl Gaming-Journalist – niemand, der diesem Feuerwerk begeistert beiwohnt und andächtig in den Himmel starrt, wenn am digitalen Firmament die nächste Werbe-Botschaft explodiert.

 

Unsere einheimischen Computerspiel- und Entwicklerpreise mögen im Vergleich zu den hochprofessionell und geleckt inszenierten Game Awards oft plump und dumm und so dermaßen fremdschämig sein, dass ich mich im nächsten Rattenloch verkriechen möchte. Aber wenn ich die Wahl zwischen einer im Superhelden-Dress auftretenden Dorothee Bär und einer im Schatten der nächsten Xbox aufspielenden Marketing-Veranstaltung habe, dann beklatsche ich lieber die bayerische Wonderwoman der Digital-Politik. Auch wenn's weh tut.

 

Damit mich keiner falsch versteht: Natürlich hockte auch ich wie gebannt vorm Bildschirm, als Microsoft seine "Series X" präsentierte (übrigens immer noch ein beknackter Name – aber auch nicht wesentlich sinnloser als "360" oder "One") – ich bin viel zu sehr Konsolen- und Technik-Fan, um bei so etwas nicht unkontrolliert zu hecheln und auf die Tastatur zu sabbern. Aber dann stellte sich eben rasch die Ernüchterung und setzte der Denkprozess ein: "Hey, was hat das hier eigentlich zu suchen? Wäre es nicht viel geiler, wenn die Game Awards einfach nur das sein dürften, was sie im Grunde sind… nämlich eine Preisverleihung für die kreative Leistung ihrer Entwickler?"

 

Ja, wäre es. 

 

Doch bei aller Meckerei bin ich heilfroh, dass die Veranstalter noch genug Mut aufbringen, um nicht zwanghaft nur an die Großprojekte Preise zu vergeben, sondern außerdem die Kleinen und ganz, ganz Kleinen zu belohnen. Auch wenn man sich im letzten Jahr NOCH Indie-freundlicher zeigte. Aber vielleicht drohte ja schon der eine oder andere Groß-Publisher mit Zahlungs-Stopp. (rb)