Den Spieler selber erzählen lassen oder ihn in ein Story-Korsett zwängen? Warum sich Open-World und klassisches Blockbuster-Storytelling nicht miteinander
vertragen.
FEATURE • Höchstnoten weltweit, jubelnde Adventure-Fans und jede Menge Lorbeeren für Autor Neil Druckmann: Naughty Dogs Endzeit-Epos „The Last of Us Part II“ wird gerade als
Meilenstein der interaktiven Unterhaltung gefeiert. Ein Umstand, den der fast 40 Stunden umfangreiche Adventure-Blockbuster vor allem seinen plastisch gezeichneten Charakteren und einem
besonderen Story-Dreh verdankt: Hat Heldin Ellie nach rund 20 Stunden das Primärziel ihrer Rache-Odyssee aufgespürt, wechselt das Spiel die Erzählperspektive und lässt den Gamer stattdessen
(Vorsicht, möglicher Spoiler!) in die Schuhe der in etwa gleichaltrigen Abby schlüpfen – genau jener Dame, die Ellie ausschalten möchte, um sich für eine ebenfalls von Rache getriebene Aktion zu
revanchieren, die wiederum Abby zu verantworten hat.
Man schenkt sich also nichts. Aber indem uns das Spiel die Rolle beider Rivalinnen übernehmen lässt, geht es mit der süffisanten dargestellten Gewalt der Action-Sequenzen ungewohnt hart ins
Gericht. Man erlebt das Spiel nun aus dem Blickwinkel derjenigen Figuren, die wir bis eben noch so kaltherzig massakriert haben.
Ganz klar: Von großen Gefühlen erzählen und diese Geschichten pompös inszenieren – in dieser Disziplin macht Naughty Dog so schnell keiner was vor. Nur: Wenn es um pures Gameplay und die
Interaktion mit der Spielwelt geht, dann schwächelt „The Last of Us Part II“ auf einmal etwas – dann sind ihm die fulminante Präsentation und die unfassbar detaillierten Kulissen sogar im Weg.
Und werden schlichte Pappkartons vor einer Tür zum unüberwindbaren Hindernis.
Emotionen wecken
An Stellen wie diesen machen die Entwickler klar, um was es ihnen in erster Linie geht: Bei Naughty Dog geht es nicht um Gameplay-Purismus oder darum, dem Spieler viel Mitspracherecht beim
Verlauf der Geschichte einzuräumen. Nein, man will filmisch aufgezogenes „Autoren-Kino“ inszenieren. Und das nutzt Interaktion als nur eines von vielen Elementen, um Emotionen zu wecken. Damit
verläuft der Ansatz des Studios diametral zu dem, was die Entwickler von Open-World-Spielen verfolgen. In Titeln wie dem ebenfalls PS4-exklusiven „Days Gone“ von Sonys Bend-Studio wird visuell
zwar ebenfalls einiges aufgefahren – aber im Zweifelsfall spielt Bewegungsfreiheit dabei eine wichtigere Rolle als die Präsentation. Open-World-Biker Deacon St. John heizt mit seinem Feuerstuhl
durch eine frei erkundbare Wald- bzw. Gebirgslandschaft und erledigt – entweder vom Fahrersitz aus oder zu Fuß – die Zombie-ähnlichen „Freaker“. Mit Pistole, Schrotflinte, MG,
Scharfschützengewehr oder Armbrust. Er hechtet behände durch offen stehende Fenster, manövriert Feinde schleichend aus und fackelt Freaker-Nester ab (im Grunde klassische Monster-Generatoren).
Dabei füttert er den Rüstungskreislauf des Spiels eifrig mit allerlei Tand, der zwar nicht im Gedächtnis bleibt, aber dabei hilft, die Bastel- und Aufrüst-Maschinerie in Gang zu halten. Bis man
so weit in der Story fortgeschritten ist, dass man das Lager eines durchgeknallten Generals dem Erdboden gleichmachen kann, der die Zombie-Apokalypse nutzt, um dem ländlichen US-Bundesstaat
Oregon seine ganz eigene Vorstellung von Moral und Anstand aufzudrücken.
Wer die Rüstungsspirale des Spiels vorher fleißig und schnell genug gedreht hat, für den ist das Schluss-Scharmützel ein Klacks. Wer ihm dagegen weniger Aufmerksamkeit geschenkt hat, der sollte
vor dem finalen Konflikt noch mal ran. Denn darum geht es auch bei Open-World-Spielen im Kern: Die Spielwelt so gründlich wie möglich abgrasen, dabei immer stärker werden und den Rüstungswettlauf
gegen die Feinde gewinnen. Die grundsätzliche Spielformel scheint sich also nur wenig vom dem zu unterscheiden, womit uns vergleichsweise geradlinige Abenteuer wie ein „Last of Us“, ein „Resident
Evil“ oder ein „Tomb Raider“ konfrontieren. Hier verbringen wir ebenfalls einen maßgeblichen Teil der Spielzeit damit, den Helden-Rucksack und die Upgrade-Menüs mit Ressourcen oder Punkten zu
füttern.
Mobilität contra Inszenierung
Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Games-Gattungen – dem Schlauchspiel auf der einen und dem Open-World-Abenteuer auf der anderen Seite – ist die Mobilität und Flexibilität, mit der
wir dabei vorgehen dürfen. Und die Freiheit, die wir dabei genießen wollen. „Last of Us Part II“ & Co. gewähren uns nur wenig Spielraum, um unser eigenes Aufrüst- und Spieltempo zu finden –
wir werden wie auf Schienen durch das Abenteuer geführt. In einer offenen Spielwelt wie der aus „Days Gone“, „Horizon: Zero Dawn“ oder Nintendos „Zelda: Breath of the Wild“ dagegen bleibt es uns
weitgehend selber überlassen, in welcher Reihenfolge und mit welcher Geschwindigkeit wir die Probleme angehen. Manchmal können wir uns dabei aber eine ganz schön blutige Nase holen: Während uns
Open-World-Blockbuster wie „Horizon“ während der ersten Spielstunden noch behutsam an die Hand nehmen und sich erst später öffnen, gehen andere Genre-Vertreter nicht so behutsam mit uns um – und
das mit voller Absicht: Unsere einheimischen Rollenspiel- und Open-World-Experten von Piranha Bytes z.B. sind spätestens seit ihrem zweiten „Gothic“-Rollenspiel dafür bekannt, dass sie den
Spieler gerne in einer Welt absetzen, bei der bereits der erste Schritt mit ziemlicher Sicherheit tödlich ist.
Wer sich in einen Open-World-Kosmos wagt, spielt also – zumindest theoretisch – auf eigene Gefahr: Ein gestiegenes Maß an Eigenverantwortung geht fast immer mit einem höheren Risiko einher – wie
im echten Leben. Darum sehen sich gerade die Entwickler von Millionen-schweren Blockbustern mit dem Problem konfrontiert, ihre gigantischen und frei begehbaren Welten auch solchen Spielern
zugänglich zu machen, deren Feierabend-Frusttoleranz vergleichsweise niedrig ist. Also lotst man den (sonst mutmaßlich überforderten) Open-World-Spaziergänger durch vergleichsweise kleine und von
der übrigen Welt abgeriegelte Einstiegs-Gebiete – und später spickt man die sich allmählich erweiternde Karte mit so vielen Quest-Markern, digitalen Post-Its und anderen Hinweisen, dass sie
aussieht wie die Wand eines Profilers (oder Massenmörders).
Im Massenmarkt angekommen
Dass die früher als sperrig geltenden Open-World-Games heute – über fast alle Gamer-Schichten hinweg – so beliebt sind, liegt unter anderem im Siegeszug der ähnlich angelegten MMORPGs begründet.
„World of Warcraft“ – wegen seiner hohen Zugänglichkeit lange als „Hausfrauen-Rollenspiel“ verschrien – hat ebenso seinen Teil dazu beigetragen wie ein „Skyrim“. Seitdem gilt das Genre der
offenen Spielwelten als besonders leichtfüßig: Hat man das vergleichsweise simple Set an Spielregeln für Bewegung, Charakter-Entwicklung und Interaktion erstmal erlernt, beschert es dem
Abenteurer hunderte Stunden beschwingtes Entertainment – das ist vor allem in Bezug auf das Preis-Leistungs-Verhältnis ein guter Deal.
ZH: „Wie hält man den Gamer dutzende und aber-dutzende
Stunden bei der Stange?“
Die Frage ist nur: Wie hält man den Gamer dutzende und aber-dutzende Stunden bei der Stange? Wie hält man sein Interesse aufrecht, wenn sich die Spielmechanismen erstmal abgenutzt haben und jedes
Steinchen umgedreht wurde? Bei geradlinigeren Spielen schafft man dieses Kunststück, indem man die Geschichte rund um die lieb gewonnenen Charaktere weitererzählt und sie wie bei einer TV-Serie
mit Cliffhangern spickt: „Sie wollen wissen, wie es unserem Helden ergeht? Dann schalten sie nächste Woche wieder ein!“ Doch geht es bei Open-World-Games nicht in erster Linie um vorgefertigte
Geschichten. Es um die Geschichten, die wir selber schreiben – z.B. durch unseren eigenen, individuellen Spielstil. Oder all die verrückten und wilden Experimente, die wir mithilfe des
spielerischen Regelwerks zelebrieren und per Social-Media teilen können – wie der bekannte „Fus-Ro-Dah“-Zauberspruch aus „Skyrim“, der alle im Wirkungsradius des Helden von den Beinen holt und
wie Spielzeugpuppen durch die Gegend fliegen lässt. Und die gigantischen, Spieler-gemachten Endzeit-Metropolen aus „Fallout 4“ – obwohl Bethesda den Bau-Modus ursprünglich nur für die
Konstruktion kleiner Bretterbuden entworfen hatte. Oder das realistische Physik-System von „Breath of the Wild“, mit dessen Hilfe Spieler ihre eigenen Luftschiffe und Monster-Katapulte entworfen
haben. Auch das war ursprünglich nicht vorgesehen.
Ein Gefühl von Heimat vermitteln
Auf diese Weise können sich Spieler die Welten aus Open-World-Games zueigen machen und sich darin heimisch fühlen – vorausgesetzt natürlich, sie haben dafür genug Zeit. Mit der
eigentlichen Geschichte verhält es sich nicht viel anders: Eine Vielzahl kleiner und interessanter, oft mit Missionen verkoppelter Stories ist zwar willkommen – aber besser ist es, wenn der
Spieler bei diesen Einsätzen auch Entscheidungen treffen darf. Entscheidungen, die den Verlauf der Geschichte beeinflussen können. Auf diese Weise kann es in „Witcher 3“ passieren, dass dem
Helden auf einmal ganze Dorfgemeinschaften freundlich oder feindlich gegenüberstehen und interessante Figuren der Welt erhalten bleiben oder vorzeitig vom Spielplan verschwinden.
Leider verträgt sich diese Herangehensweise nicht besonders gut mit dem etablierten AAA-Modell. Die Marketing-Maschinerie der großen Blockbuster-Fabriken ist daran gewöhnt, die Aufmerksamkeit des
Publikums mithilfe von cineastisch aufgezogenen Geschichten in Trailer-Format zu binden – ein Überbleibsel der Hollywood-Verwandtschaften, die sich noch immer durch unsere Branche ziehen. Am
liebsten verwendet man dafür natürlich bekannte Gesichter wie einen „Spider-Man“, der sich im gleichnamigen Open-World-Spiel von Insomniac nicht nur in der Horizontalen, sondern außerdem in der
Vertikalen bewegt. Oder attraktive Alter Egos wie die rothaarige „Horizon“-Bogen-Schützin Aloy, die auf dem Rücken von Cyber-Huftieren durch eine ungewöhnliche Mixtur aus Steinzeit und Futurismus
reist, um eine rachsüchtige Weltuntergangs-Maschine zu besiegen. „Days Gone“-Biker Decon wiederum will seine während der Zombie-Apokalypse verloren gegangene Frau wiederfinden. Und in Ubisofts
„Assassin's Creed“-Reihe haben sich die Geschichten um die Ursprünge des berühmten Meuchler-Ordens längst so weit von dem ursprünglichen Serien-Gedanken entfernt, dass man ohne Begleitbuch kaum
noch durchblickt, worum es eigentlich geht.
Aber ganz gleich, wie verständlich oder stimmig diese Geschichten auch sind: Sie eignen sich hervorragend dafür, Spiele zu verkaufen – und stehen damit in derselben, inzwischen eigentlich
überholten Vermarktungs-Tradition wie geradlinigere Spiel-Erlebnisse.
Die Hollywood-Prämisse: geradlinig und berechenbar
Nur, dass sich cineastisch inszenierte Geschichten nicht sonderlich gut mit der Struktur einer frei begehbaren Spielwelt vertragen: Teuer produzierte Film-Sequenzen oder von Hollywood-Profis
verfasste Dialoge setzen eigentlich Geradlinigkeit und Berechenbarkeit voraus. Sie funktionieren nur dann richtig gut, wenn sie bei jedem Spieler die gleichen starren Bedingungen vorfinden. So
setzt Rockstars inzwischen aus dem Unternehmen geschiedener Mitgründer Dan Houser in seinem Open-World-Western „Red Dead Redemption 2“ einen Story-Verlauf voraus, der vielen Spielern so gar nicht
behagte: In Neben-Missionen stellte er seinen tragischen Antihelden Arthur Morgan als netten Kerl dar, der auf die schiefe Bahn geraten ist, aber im Grunde ein solides und ehrliches Leben führen
möchte. Doch in den Haupt-Missionen, an denen sich die Geschichte des Spiels bis zum unvermeidlichen Abspann entlang hangelt, lässt man ihm keine Wahl: Dann MUSS er den Schurken geben – bis er
schließlich von seinen eigenen Gefährten hingerichtet wird. Sicher: Das Ergebnis ist eine interessante und packende Geschichte – aber warum hat man dem Spieler nicht die Möglichkeit gegeben,
selber über Arthurs Schicksal zu entscheiden? Warum darf er sich nicht von der Bande lösen, sein eigenes Ding machen, seine Jugendliebe heiraten und mit ihr glücklich in den Sonnenuntergang
reiten?
Dazu hätte Dan Houser die Verantwortung für die Story in die Hände des Spielers übergeben müssen – und das wäre vielleicht weder mit dem Ego des Autoren noch mit den hohen Production-Values des
Titels zu vereinbaren gewesen. Immerhin wollen jeder Story-Strang und alle mit ihm verbundenen Sequenzen aufwendig produziert werden. Doch genau darum geht es eigentlich in Open-World-Games: Um
die Geschichte, die wir selber erleben und mit-gestalten. Open-World-Spiele sollte man nicht als feststehende Geschichten verstehen (wie Romane) – es sind vielmehr „Welten-Boxen“ und Regelwerke,
mit deren Hilfe sich der Spieler selber ausleben möchte. Wie bei einem Pen-and-Paper-RPG.
Selbstbestimmung gewinnt
Bei Bethesda hat man – mutmaßlich aus Jahrzehnte-langer Erfahrung und der Verwurzelung im Rollenspiel-Genre – etwas besser verstanden, wie Open World funktioniert: Games wie „Skyrim“, „Fallout:
New Vegas“ oder „Fallout 4“ sind zwar kein Muster an Schönheit, aber dafür räumen sie dem Spieler ein höheres Maß an verspielter Selbstbestimmtheit ein. In „Fallout 4“ bspw. will der Spieler nach
dem Transfer in die verstrahlte Zukunft seinen verschollenen Sohn aufspüren – nur um schließlich herauszufinden, dass der Sprössling inzwischen älter ist als er selber und das im Untergrund der
Spielwelt gelegene „Institut“ leitet. Im späteren Verlauf des Abenteuers darf der Gamer dann selber entscheiden, ob er mit seinem Sohn gemeinsame Sache macht oder sich einer der anderen
Fraktionen der Spielwelt anschließt. Je nachdem, wie er sich entscheidet, kann er später – nach dem unvermeidlichen Ableben seines Sohns – selber das Institut und seine unbegrenzten
technologischen Ressourcen leiten. Dann begegnet er anderen Feinden und hat Zugang zu anderen Ausrüstungsgegenständigen.
Die Vorteile und Probleme von Open-World-Szenarien liegen also auf der Hand: Richtig eingesetzt, können sie über viele Monate das Interesse des Spielers binden. Allerdings stellen sie auch
besondere Anforderungen an Produktion und Vermarktung. Game-Designer sollten langsam verstehen, dass die Storytelling-Regeln geradliniger Spiel-Modelle hier weitgehend außer Kraft gesetzt sind.
Und Hersteller müssen diese Besonderheiten in passende Vermarktungs-Mechanismen übersetzen – anstatt ihre Entwickler zu etwas zu zwingen, was nicht zu diesem Spiele-Genre passt. Probate Beispiele
für funktionierendes Open-World-Marketing liefern übrigens die Publisher von Multiplayer-Spielen wie „World of Warcraft“ oder „League of Legends“: Anstatt einzelne Gesichter und Geschichten zu
kommunizieren, verkauft man Charakterklassen, Welten und Spielmechanismen. Und vermeidet auf diese Weise Situationen, in denen geradliniges Storytelling und die Unwägbarkeiten einer offenen
Spielwelt miteinander kollidieren.
Spielwelten können auch ohne cineastisches Schmuckwerk faszinieren. Wer dagegen unbedingt eine Geschichte erzählen will, ohne dem Spieler irgendein Mitbestimmungsrecht einzuräumen, der sollte
vielleicht keine Open-World-Games produzieren. Oder am besten gleich Filme drehen. (rb)