Weil sie den Hals nicht vollkriegen: Warum Spiele wieder kürzer werden müssen

Kriegt den fetten Hals auch nicht voll: der Horror-Koch aus "Little Nightmares" von Tarsier und Namco Bandai
Kriegt den fetten Hals auch nicht voll: der Horror-Koch aus "Little Nightmares" von Tarsier und Namco Bandai

 

Mehr Inhalt für immer weniger (oder zumindest das gleiche) Geld: Warum die Gier auf Mehr den Genuss zerstört und Spiele endlich wieder kürzer werden müssen.

KOLUMNE • Wie umfangreich dürfen, sollenm müssen Spiele eigentlich sein? Befeuert durch die Ausführungen von Sonys ehemaligem PlayStation-Studio-Chef Shawn Layden kocht die Diskussion über die Dauer von Blockbuster-Spielen wieder hoch: Wie lange soll es idealerweise dauern, bis der Abspann über die Mattscheibe flimmert? Sind 30 oder 35 Stunden wie in einem „The Last of Us, Part 2“ eine probate Länge? Oder doch lieber zehn bis 20 – wie bei „Resident Evil 3“ der Fall? Und wie sieht es mit Open-World-Games aus, für deren Lösung der Spieler manchmal hunderte, in Extremfällen sogar tausend und mehr Stunden benötigt, wenn er der Spielwelt jedes Geheimnis abringen will? Und was ist mit ausgesprochen kompakten Titeln wie dem in unserer Aufmacher-Grafik abgebildeten Adventure-Jump'n'Run "Little Nightmares"? Ist das mit um die vier Stunden Spielzeit (ohne Add-On) womöglich zu kurz? Oder vielleicht sogar gerade richtig? Und welche Rolle spielt dabei der Umstand, dass die kleine und wohlig gruselige Indie-Episode noch nie ein klassisches Vollpreis-Produkt war?

Kurzum: Layden sorgt sich vor allem um die mit längeren Spielen einhergehenden, stetig steigenden Entwicklungskosten. Im Grunde eine berechtigte Überlegung – doch prompt melden sich tausende zornige Gamer zu Wort, die sich – quasi präventiv – um ihre Moneten behumst fühlen. Kürzere Games fürs gleiche Geld? Skandal! Die gierigen Konzerne verdienen doch eh genug!

Aber schauen wir uns Laydens Argumentation doch erstmal im Detail an: Ihm zufolge hat Naughty Dog ungefähr drei Jahre gebraucht, um das erste „Last of Us“ zu entwickeln – ein Titel, für dessen Lösung man circa 15 bis 20 Stunden braucht. Der gerade erst veröffentlichte PS4-Nachfolger dagegen schmorte für seine 30 bis 35 Stunden Spielzeit fast doppelt so lange in der Entwicklungshölle – und ging natürlich mit entsprechend höheren Kosten einher. Nur: Beide Spiele – Teil 1 und 2 – wurden (bzw. werden) anfangs für 60 bis 70 Euro, als zum „Vollpreis“ verkauft. Layden behauptet deshalb, das derzeitige Blockbuster-Modell wäre bald nicht mehr nachhaltig – Spiele müssten kürzer werden, damit die Rechnung wieder stimmt.

 


30 bis 35 Spielstunden bei fast sechs Jahren Entwicklungszeit: „The Last of Us, Part 2“
30 bis 35 Spielstunden bei fast sechs Jahren Entwicklungszeit: „The Last of Us, Part 2“

Ungelöste Fälle

Dass viele Gamer aber mit vergleichsweise kurzen Spielen ein Problem haben, musste Sony bereits am eigenen Leib erfahren: Noch früh im Lebenszyklus der PS4 erdreistete man sich nämlich, mit „The Order: 1886“ ein Spiel zu veröffentlichen, das für gerade mal zehn bis zwölf Stunden unterhält – entsprechend wütend reagierte die Community und drosch so erbost auf das hilflose Stück Software ein, dass es sich blutend und weinend in eine Ecke verkroch, um dort – von der Öffentlichkeit weitgehend geschmäht – zu verenden. Dabei war die auf ruhige Deckungs-Gefechte ausgerichtete Werwolfs- und Vampir-Hatz ein visuell detailverliebtes Spektakel mit filmischer Aufbereitung – eigentlich genau das, was PlayStation-Spieler von einem Exklusiv-Game für ihre Plattform erwarten.

Doch inzwischen sind vieler Gamer von dem „Value for Money“-Gedanken so besessen, dass sie dabei ein simples Fakt außer Acht lassen: Der Wert eines Unterhaltungsprodukts lässt sich nicht einfach in der mit ihm verbrachen Zeit messen. Hinzu kommt, dass viele Kunden die Bandwurm-Spiele, nach denen ihnen so sehr dürstet, nicht mal zu Ende bringen: Bereits während der PS2-Zeit (als das durchschnittliche Videospiel noch deutlich kürzer war) veröffentlichte Sony die Ergebnisse einer Studie. Die sollte herausfinden, wie viele von all den verkauften Games tatsächlich durchgezockt werden – und das Ergebnis war niederschmetternd: Nicht mal 20 Prozent der verkauften Games-Titel wurden beendet, während viele nach vergleichsweise kurzem Anspielen sofort ins „Archiv“ oder auf den „Pile of Shame“ wanderten. Auf den stetig wachsenden Stapel derjenigen Games, die man sich „später“ zur Brust nimmt. Nur, dass „später“ hier fast immer „niemals“ bedeutet.

 


Altbekannte Formel für maximalen Spielumfang: Open-World-Games wie „Ghost of Tsushima“
Altbekannte Formel für maximalen Spielumfang: Open-World-Games wie „Ghost of Tsushima“

Mehrmals genießen

Stellt sich also die Frage: Warum sind Zocker derart darauf versessen, so viele Spielstunden wie möglich fürs Geld zu kriegen, wenn sie unter Umständen nicht mal die nötige Zeit oder Ausdauer mitbringen?

Vielleicht hilft ein kurzer Exkurs in die Welt anderer Medien, um das Geheimnis zu lüften: Zieht man z.B. die mit einem Film verbrachte Zeit als Vergleich heran, dann erscheint dessen Preis geradezu lächerlich hoch. 15 bis 20 Euro für eine neue Bluray mit einem anderthalb bis dreistündigen Film? Oder noch mehr Geld für einen Kinobesuch, bei dem man den Streifen nur ein einziges Mal sieht? Absurd!

Allerdings kommen Bluray und Kino-Besuch mit einer besonderen Art von Mehrwert: Wer in den Kauf eines Films investiert, der geht meist davon aus, dass er ihn sich mehrmals ansehen wird. Und wer dafür sogar ins Kino schlendert, der zelebriert ihn gemeinsam mit Freunden oder dem Partner – es geht nicht allein um den Film, sondern um das Event. Sonst dürfte kein Mensch der Welt jemals auf ein Konzert gehen: 60 Euro und mehr, um Rammstein über die Bühne (rock'n')rollen zu sehen, wenn man sowieso alle Alben im Regal oder auf iTunes hat? Von der „Kosten-Nutzen“-Warte aus betrachtet ist das ein katastrophal schlechter Deal.

Misst man den Wert eines Mediums also vielleicht in der Qualität der damit verbundenen Erinnerungen – oder der potentiellen Anzahl der Nutzungen? Wohl nicht grundsätzlich – denn sonst dürften sich Gamer nicht darüber beschweren, dass ihr Action-Spiel nur zehn Stunden dauert. Auch hier gibt es eine Menge schöner Erinnerungen – und obendrein könnte man es mehrmals genießen. Warum ein tolles Zehn-Stunden-Game nicht fünfmal zocken und so auf 50 Stunden Gesamt-Nutzung kommen?

 


Wegen seines geringen Spielumfangs weitgehend verschmähtes Spiel: das eigentlich packende „The Order 1886“ von 2015
Wegen seines geringen Spielumfangs weitgehend verschmähtes Spiel: das eigentlich packende „The Order 1886“ von 2015

Blättern bis die Finger bluten

Der Film-Event- und -Spiel-Vergleich scheint demnach zu hinken. Versuchen wir es mal mit einem anderen Medium – und zwar dem guten alten Buch: Ebenso wie Spiele sind Bücher in den letzten Jahren immer umfangreicher geworden – und zwar auf ähnlich exponentielle Weise. Dicke Schwarten gab es zwar immer schon, aber Roman-Serien aus ehemals 150 bis 300 Seiten umfassenden Einzelbänden bestehen heute nicht selten aus Totschlägern von 600, 800, tausend und mehr Seiten. Dabei liest der Kunde von heute nicht mehr als der von damals.
Aber Buchverleger haben im Laufe der letzten 25 Jahre ähnliche Lektionen gelernt und Schlüsse gezogen wie Spiele-Firmen: Zum einen ist es (scheinbar) eine gute Idee, den Kunden so lange wie möglich an die eigenen Werke und Marken zu binden – und das erreicht man, indem man den Käufern so viel Inhalt wie möglich um die Ohren haut. Je mehr Seiten, desto besser. Außerdem scheint auch der Buch-Käufer von der Formel "Je mehr Inhalt fürs Geld, desto besser" eingenommen zu sein. Klar werden viele der aufwendig geschriebenen, lektorierten und nicht selten auf Bibelstärke aufgeblasenen Werke un-, an- oder nur zur Hälfte gelesen in die Ecke gefeuert. Aber das macht ja nichts, solange der Kunde trotzdem dafür bezahlt – richtig?

Auch die Art und Weise, auf die Bücher konsumiert werden, scheint verwandt mit Spielen zu sein: Anders als bei einem guten Film erreicht man bei Büchern und Spielen nicht zwangsläufig das Ende – denn der Weg von den ersten Schritten bzw. Lettern bis zum Ende ist ähnlich mühselig. Darum werden diese Medien auch meist nur ein einziges Mal konsumiert: Wer ein Buch oder Spiel genossen hat, der nimmt es sich vielleicht vor, den Durchgang zu wiederholen – aber in der Regel bleibt es bei einer einzigen Nutzung. Zeitliches Investment und die damit verbundene Anstrengung sind einfach zu groß, um die „Ochsentour“ zu wiederholen – auch wenn sie noch so packend war.

Mögliches Zwischenfazit: Je länger und anstrengender der Konsum des einzelnen Produkts, desto länger sollte es sein, damit der Kunde etwas davon hat.

 


Verwöhnen den Kunden für kleines Geld mit unendlichen Mengen an Medien-Fast-Food: Plattformen wie Netflix
Verwöhnen den Kunden für kleines Geld mit unendlichen Mengen an Medien-Fast-Food: Plattformen wie Netflix

Falsch erzogen

Zumindest theoretisch – denn nach wie vor geht es dabei um keinen tatsächlichen, sondern allenfalls einen „gefühlten“ Produktwert. Weil das Konsum-Zentrum des Gehirns wie zugedröhnt in der Ecke liegt, sobald man ihm ein geiles Geschäft vorgaukelt. „Deals“ sind die Droge, auf die es reagiert – und ist es erstmal bekifft genug, setzt es jeden Rest von Ratio oder echtem Qualitäts-Bewusstsein außer Kraft und zieht das Schnäppchen gierig an Land. Dass Genuss-Zentrum und Anspruchs-Nerven dabei allmählich verkümmern, kriegt der Konsument gar nicht mit. Er sitzt glückselig vor dem achtstündigen Director's Cut seines Lieblingsfilms, sammelt 20 Buch-Zyklen, die er IRGENDWANN mal lesen wird, fängt zwölf Open-World-Games gleichzeitig an und konsumiert dutzende TV-Serien per Streaming-Flatrate. Denn er hat gelernt, dass ihm die Hersteller, Anbieter und Plattform-Betreiber genau das geben, was er will: Mehr von allem.

Nur: Wer ständig Fast-Food konsumiert, dessen Geschmacksnerven sind nach einigen Jahren so abgestumpft, dass er ein Fünf-Sterne-Menü gar nicht mehr erkennt, wenn man es ihm vorsetzt. Feinschmecker wissen: Kleine Häppchen sind oft die besten – aber das Gros der Konsumenten hat das längst vergessen.

Aber was, wenn die Firmen ihre Kunden inzwischen so sehr verzogen haben, dass sich mit deren unstillbarem Heißhunger bald kein Geschäft mehr machen lässt? Was, wenn der durch ein Überangebot überzüchtete und überfütterte Super-Konsument den Hals einfach nicht vollkriegt – ganz gleich, wie viel man in seine weit geöffnete, Müllschlucker-ähnliche Fressluke auch rein schüttet?

Klar, anfangs mag es wie eine tolle Idee erscheinen, wenn man durch stetig wachsenden, immer günstigeren Content ständig mehr User wirbt. Zumindest so lange, wie die Börsenkurse steigen. Doch was passiert, wenn man hart verdientes, ganz und gar un-börsianisches und von Investments entkoppeltes „CASH“ braucht, damit der Laden weiter läuft? Dann kippt die Rechnung auf einmal.

 


Spielkonzept und Umfang von damals im modernen Technik-Gewand: das Remake von "Resident Evil 3"
Spielkonzept und Umfang von damals im modernen Technik-Gewand: das Remake von "Resident Evil 3"

Kurs korrigieren, bevor es zu spät ist

Und genau darauf hat Shawn Layden angespielt: Der ehemalige Sony-Manager fürchtet ein System, das so krank ist, dass es keine Rettung mehr gibt. Open-World-Games mögen im Moment vielleicht noch ein wirksames Heilmittel sein, weil sich auf diese Weise zu einem vergleichsweise erschwinglichen Preis Spielwelten erschaffen lassen, die den Gamer nahezu endlos beschäftigen. Stehen das Spielsystem, die grundsätzlichen grafischen Assets und der Welten-Baukasten erstmal, kann der Entwickler damit schneller riesige Szenarien aus dem Boden stampfen als es bei einem „The Last of Us 2“ der Fall ist, in dem fast jeder Winkel des Spiels „handmade“ ist – also extra für die jeweilige Situation angefertigt wurde. Nur: Wie lange wird sich der Spieler noch damit abspeisen lassen, für dutzende Stunden ewig gleiche Missionen abzuarbeiten, während sich das anfangs noch verheißungsvolle Genre hartnäckig jeder Weiterentwicklung verweigert?

Heilung für das Problem kann es nur geben, wenn beide Seiten ein Einsehen haben – die Konsumenten und die Konsumgut-Bereitsteller. Denn den Hals kriegen ja beide nicht voll.

Vielleicht kann es dabei helfen, sich darauf zu besinnen, das einige der besten Geschichten aller Zeiten auch die kürzesten waren. Gerade lang genug, um darin schwelgen zu können – aber auch nie so ausschweifend, dass man den Überblick verlieren würde. Denn eine Geschichte, die so lang ist, dass man bei ihrem Ende schon den Anfang wieder vergessen hat… die macht irgendetwas falsch. Und wer lernt, auf ein paar Stunden Inhalt zu verzichten, der hat umso mehr Zeit für das, auf das es eigentlich ankommt: den Genuss. (rb)