Drohnen über London: "Watch Dogs: Legion" im Test


 

In naher Zukunft wird London zum digitalen, Drohnen-umschwirrten Überwachungs-Opfer – und die bunte Hacker-Truppe DedSec soll's richten: Dafür macht "Watch Dogs: Legion" jeden Quest-Geber des Spiels und Bewohner der Themse-Stadt zum potenziellen Helden.

KRITIK • PS4, PS5, Xbox One, Series X/S, PC • Mit seiner Meuchel-Mär "Assassin's Creed" hat der französische Hersteller Ubisoft das moderne Open-World-Spiel maßgeblich geprägt, 2014 kam dann mit der "Watch Dogs"-Marke eine kleine Schwester-Serie dazu. Deutlichster Unterschied: das Setting. Statt mittelalterlichen bis altertümlichen Landschaften werden moderne Metropolen erkundet, durchleuchtet, durch-mordet und manchmal auch erklettert. Hier stellen sich - mit Hi-Tech-Gadgets, Smartphones und Schießprügeln bewaffnet – die Computer-Nerds der DedSec-Gruppe bösen Großkonzernen und korrupten Regierungen. Die Methoden der bunten und punkigen Untergrund-Truppe changieren dabei zwischen ulkigem Aktionismus und fast schon an Terrorismus grenzender Brutalität.

Damit ist das "Watch Dogs"-Szenario manchmal grenzwertiger als das von "Assassin's Creed": Dessen Gewalt-Exzesse lassen sich wegen der in die Science-Fiction abdriftenden Historien-Fantasy gerade noch verknusen – aber "Watch Dogs" kommt unserem heutigen Alltag so nahe, dass DedSecs vermeintlicher Freiheits-Kampf oft geschmacklos wirkt.

 

Gerade die aktuelle Episode "Legion" versucht sich an dem gefährlichen Spagat zwischen aktualisierter Sozialkritik und humorig aufbereiteter Bildschirm-Anarchie. Manchmal gelingt der Spagat gerade noch so – aber viel zu oft zieht sich "Watch Dogs Legion" bei seinen grenzwertigen Manövern handfeste moralische Verletzungen zu und wird das Spielgeschehen zu einer Art digitalem Verkehrsunfall: Man will wegsehen, kann aber nicht.

 




Und das fängt bereits bei der Ausgangs-Lage der diffus erzählten Geschichte an: Weil eine andere Hacker-Gruppe in London den Tod vieler tausend Menschen verschuldet, wird die britische Metropole im Laufe der kommenden Jahre zum totalitären, von Sicherheits-Mega-Konzernen regierten Minenfeld. Seitdem alltäglich: Riesige Drohnen-Schwärme, die wie ferngesteuerte Raubvögel ihre Bahnen über der Mega-City an der Themse ziehen und jede Bewegung des städtischen Lebens bespitzeln - zusammen mit unzähligen Kameras und anderen modernen Überwachungs-Maßnahmen.

Ein Szenario wie geschaffen für die digitalen Infiltrations-Experten von DedSec: Seitdem die Gruppe für die Anschläge auf London als Sündenbock missbraucht wird, ist sie zwar empfindlich geschwächt - aber mithilfe des Spielers werden aus wenigen viele… eine "Legion". Dafür reist der erste Hacker-Avatar kreuz und quer durch London – zu Fuß oder an Bord eines gekaperten, wahlweise selbst lenkenden Elektro-Mobils. Fun-Fact: Die meisten durch die Londoner City kreuzenden E-Schlitten sind unbemannt. Nach einer logischen Erklärung für dieses Phänomen suchen wir noch immer. Vielleicht sind sie unterwegs, um ihre Besitzer von der Arbeit abzuholen – oder sie treffen sich zu geheimen Auto-Fetisch-Partys.

Am Ziel der Reise werden dann fröhlich Daten abgesaugt, legt man mit dem Handy auf simplen Tastendruck Sicherheitssysteme lahm, arrangiert man virtuelle Schalter-Puzzles oder steuert zum Beispiel einen wuseligen Spinnenroboter auf seinem Weg durch Luftschächte und feindliche Laboratorien. Oder springt man einer digital gehirngewaschenen Lasten-Drohne aufs Dach, um Stacheldrahtzäune und ähnliche Hindernisse zu überwinden.

 

Und wollen die Gegner nicht auf digitale Anweisungen hören, so braucht man echte Gewalt: Das aus Abwehr-Manövern und flotten Schlägen oder Roundhouse-Kicks bestehende Nahkampf-Repertoire ähnelt in seiner Ausführung dem älterer "Assassin's Creed"-Spiele, bei denen man durch die Dauer-Betätigung des Abwehr-Buttons fast jedem Angriff entkommen konnte. Für die vergleichsweise seltenen Schusswechsel schaltet das Spiel dagegen in den Deckungs-Shooter-Modus. Dann heißt es wie bei "Gears of War" oder "Uncharted" zuerst "sich verkrümeln", dann "vorsichtig zielen" und zu guter Letzt "schnell abdrücken".

Klar, dass man bei so viel Hack- und Action-Betrieb Unterstützung braucht: Darum fängt der zunächst einsame Streiter für Möchtegern-Recht und Daten-Unordnung schon früh damit an, die Reihen der Hacker-Legion aufzufüllen - und zwar durch Erledigung kleinerer bis größerer Gefälligkeiten. So will die Bauarbeiterin mit Lasten-Drohne, dass ihr Schulden-Register auf Null gesetzt wird, während ein Journalist nach Beweisen für die Verbrechen eines Online-Unternehmens forscht. Zur Belohnung machen die manchmal hoch spezialisierten Auftraggeber anschließend bei DedSec mit und darf man jederzeit zwischen allen Mitgliedern der Hacker-Truppe hin und her springen.

 



 

Allerdings ist – zumindest auf noch aktuellen Konsolen – fast immer eine lästige Ladepause die Folge und der Wechsel auch sonst nicht immer ganz so fliegend, wie es die Logik diktiert: Gerade eingewechselte Hacker befinden sich auf einmal nicht mehr dort, wo man sie erst vor wenigen Sekunden zurückgelassen hat. Stattdessen stromern sie durch komplett andere Viertel der Stadt. Störende und unnötige Reise-Strecken sind die Folge - Reisen durch eine Metropole, die visuell zwar einiges hermacht, aber nicht annähernd so belebt, detailliert oder mit liebevollen Gags gespickt ist wie die San Francisco Bay Area aus dem letzten "Watch Dogs".

Durch das "Legion"-System gelingt es dem neuen "Watch Dogs" zwar, die sonst gesichtslosen Missions-Gebern aus anderen Spielen direkt ins Game-Geschehen zu integrieren, dafür opfert es allerdings die Individualität und das Profil, das normalerweise mit einem einzelnen Spiele-Helden einhergeht. Resultat: Der Zock-Betrieb fühlt sich über weite Strecken beliebig an und die konfuse Story um die Suche nach den eigentlichen Schuldigen des London-Attentats büßt immer mehr von ihrer Dynamik ein. Spannend geht anders.

Obendrein verpasst Ubisoft zielsicher fast jede Chance, Stellung zu aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Problemen auf der Insel zu beziehen – selbst die Corona-Pandemie wird nur durch das Angebot von Mund- und Nasen-Masken an den Klamotten-Automaten der Stadt reflektiert. Vermutlich umschiffen die Entwickler Themen wie den bevorstehenden Brexit ganz bewusst, um keine Käufer zu vergraulen, die mit den politischen Statements des Spiels nicht konform gehen. Nur stellt sich dann die Frage, warum man ausgerechnet London als Schauplatz gewählt hat. Einzige echte Ausnhame: Die "GTA"-ähnlichen Radio-Sendungen, deren Moderatoren süffisant bis sarkastisch ihre politischen Standpunkte kommunizieren.

Tatsächlich scheint sich das Spiel als eine Parabel auf grassierenden Vernetzungs-Wahn und digitale Kontroll-Mechanismen zu verstehen. Und diese Botschaft vermitteln zu wollen: Dank digitaler Hilfsmittel kann heute jeder ein Held sein und sich für die richtige Sache einsetzen. Nur: Was genau diese richtige Sache eigentlich ist, das lässt "Legion" viel zu oft offen – oder beanwortet sie glatt verkehrt. Das Aufbegehren gegen einen übermächtigen, die Rechte seiner Bürger empfindlich beschneidenden Staat ist zwar eine gute Sache – aber in Corona-Zeiten könnte es als Wasser auf die Mühlen all jener missverstanden werden, die Maßnahmen zur Eindämmung einer gefährlichen Infektions-Dynamik mit Unterdrückung verwechseln und sich als eine Art DedSec missverstehen, obwohl sie in Wahrheit nur Internet-Trolle sind. Klar: Die Entstehung eines Spiels vom "Watch Dogs"-Kaliber nimmt Jahre in Anspruch – man kann es Ubisoft also schwerlich vorwerfen, wenn sie nicht minutiös auf jede neue politische oder gesellschaftliche Entwicklung reagieren können. Einen faden Beigeschmack hat es dennoch.

 

Bereits jetzt wirkt "Legion" über weiter Strecken, als hätten seine Macher immer wieder die Story-Schere angesetzt, um vermeintlich problematische Aussagen zu entschärfen oder gleich komplett zu streichen. Das Resultat ist ein enttäuschend zahnloses und manchmal brüchiges Erzähl-Konstrukt, dem es an Profil und Story-Substanz mangelt.  Stattdessen liefert man ein manchmal erdrückendes Über-Angebot an nicht immer optimal aufeinander abgestimmten Features ab, denen ein kohärenter Design-Unterbau fehlt. Am Ende ist "Legion" deshalb leider nicht mehr als die Summe seiner oft fehlerhaften Teile: Es ist ein hübscher, aber auch zutiefst verwirrender Mega-Sandkasten, bei dem man oft nicht weiß, mit welchen Tools man zuerst spielen soll.

 

Note: 6.5 (BEFRIEDIGEND)

 

 


WERTUNGEN: 1.0, 1.5, 2.0 = ungenügend • 2.5, 3.0, 3.5 = mangelhaft • 4.0, 4.5, 5.0 = ausreichend • 5.5, 6.0, 6.5 = befriedigend • 7.0, 7.5, 8.0 = gut • 8.5, 9.0, 9.5 = sehr gut • 10 = bahnbrechend