SERIE • Im Grunde ist Gus ein ganz normaler Zehnjähriger. Er ist laut, frech, neugierig, abenteuerlustig, chronisch unbelehrbar, tobt gerne mit geladener Zwille durch den Wald,
mit der Hygiene nimmt er's oft nicht so genau … und dann verdrückt er natürlich gerne Süßigkeiten – und zwar mit solcher Inbrunst, dass ihm sein Heißhunger auf Schokoriegel & Co. den
Spitznamen "Sweet Tooth" eingebracht hat. Vorausgesetzt natürlich, es sind überhaupt Leckerli zu haben – denn Gus lebt in einer postapokalyptischen Welt. Und dort sind Süßwarengeschäfte ungefähr
so häufig wie Zahnärzte.
Das ist allerdings das geringste Problem des kleinen Kerls – denn an dieser Stelle hören „Sweet Tooths“ Gemeinsamkeiten mit einem normalen Zehnjährigen auch schon auf: Gus ist nämlich ein
Mensch-Tier-Hybrid – mit dem Geweih eines heranwachsenden Hirschs, zwei pelzigen Lauschern anstelle menschlicher Ohren und einem Geruchssinn von geradezu animalischer Präzision. Das ist zwar
praktisch, um Süßigkeiten oder zum Beispiel Medikamente aufzuspüren – sorgt aber auch für skeptische Blicke unter den Menschen, vor denen Gus seine Natur unbedingt verbergen muss. Denn für die
meisten von ihnen scheint klar: Die Hybriden sind schuld an der Seuche, die vor ca. zehn Jahren ein Gros der Menschheit dahingerafft hat. Darum und weil man sich von ihnen die Zutaten für einen
wirkungsvollen Impfstoff erhofft, werden die Hybriden-Kinder gnadenlos gejagt und sind inzwischen nahezu ausgerottet. Seitdem befinden sich Gus und seine Leidensgenossen auf der Flucht – ganz
gleich, ob sie nun die Merkmale eines Hirsches aufweisen, Schweinsnase und Ringelschwänzlein haben, sie ihre Augen verdrehen können wie ein Chamäleon oder ihnen statt Nase ein Rüssel aus dem
Gesicht sprießt.
Netflix produziert die bisher acht Episoden lange TV-Adaption von Jeff Lemires Comic-Serie als eine Parabel auf Rassismus und Intoleranz, die – passend zum Szenario – zwar hin und wieder
depressive Untertöne anstimmt, aber insgesamt deutlich heller, niedlicher und weniger schrullig als die finstere Vorlage daherkommt. Deren schroffe Zeichnungen haben viele Comic-Fans anfangs so
sehr abgeschreckt, dass der gezeichnete „Sweet Tooth“ erst spät die verdiente Beachtung fand.
Die Netflix-Serie ist deshalb gleich in zweifacher Hinsicht ein echter Glücksfall: Zum einen, weil ihre Kombination aus Virus-Apokalypse, Sozial-Parabel und Umwelt-Botschaft genau zur richtigen
Zeit kommt – zum anderen, weil sie vielen TV-Guckern den Zugang zu Lemires eindringlichen Bildern erleichtern dürfte, ohne deren Botschaft zu stark zu verwässern oder unter allzu viel Zuckerguss
zu ersticken. Während Lemires Comics vor allem auf die Hoffnungslosigkeit fokussieren, lässt sich die TV-Version stärker auf das Prinzip Hoffnung und die Psychologie der Figuren ein: Obwohl Gus
und sein hünenhafter Beschützer – der ehemalige Football-Star Tommy Jepperd (bärig gespielt von Nonso Anozie) – fast ständig in Gefahr sind, bleibt Gus doch immer ein Kind. Voller Hoffnung,
Arglosigkeit und Verspieltheit – immer mit dem Ziel vor Augen, seine verschollene Mutter zu finden. Dass am Ende der Odyssee aber eine Erkenntnis stehen könnte, die schlimmer ist als die Frage –
auf diese Idee kommt das abgeschottet aufgewachsene Kind gar nicht erst. Der Reiz von „Sweet Tooth“ besteht deshalb gar nicht so sehr in der verhandelten Materie (so interessant sie auch sein
mag), sondern vielmehr in ihrer Wahrnehmung: In Tommy Jepperd erleben wir den typischen post-apokalyptischen Helden. Und der verhält sich auch ziemlich genau so, wie man es von ihm erwartet: Er
löst Probleme mit Waffengewalt und Faustrecht – oder er starrt sie einfach nieder, denn bereits die eindrucksvolle Statur des ehemaligen Stadion-Athleten lässt viele Bösewichte mit den Knien
schlottern. Oder genauer: So WÜRDE er sich verhalten – wäre da nicht ein ihn grenzenlos bewunderndes Kind, dass jede seiner Bewegungen mit neugierigem, vorbehaltlosen Blick verfolgt und dem in
Schockstarre gefangenen Herz des notorischen Brummbären mit jedem Schritt durch die Postapokalypse ein Stückchen mehr von seiner einstigen Empfindsamkeit zurückgibt. Durch diesen erzählerischen
Kniff wird Gus von der Frontfigur der Serie immer wieder zum Brennglas, durch das wir Szenario und Figuren aus einer weniger destruktiven und hoffnungslosen Perspektive betrachten – anders als
bei Untergangs-Stoffen für gewöhnlich der Fall.
Konsequenterweise behält „Sweet Tooth“ diese Perspektive häufig selbst dann bei, wenn Gus gar nicht mit von der Partie ist: Wie bei der Betrachtung einer spießigen Kleinstadt, die so tut, als
wäre die Welt um sie herum in schönster Ordnung – bis zu dem Punkt, an dem die geliebten Nachbarn auf einmal Symptome der Seuche zeigen und dann gnadenlos in ihren eigen Häusern verbrannt werden.
Oder bei der Parallel-Erzählung einer einstigen Karriere-Frau, für die der Weltuntergang ein ausgesprochener Glücksfall war, weil sie durch seine Hilfe wieder zum Mensch-sein zurückfinden konnte:
Jetzt päppelt zieht sie im Schutz eines ehemaligen Großstadt-Zoos gerettete Hybriden-Kinder groß. Von denen übrigens nur die wenigsten reden oder sich irgendwie verständlich machen können: Gus
gehört zu den menschlichsten Vertretern dieser neuen Art – im Gegensatz zum knuffigen Murmeltier-Hybriden Bobby, der nur rudimentäre Sätze zustande bringt und den die Serien-Crew als
Muppet-ähnliche Figur umgesetzt hat.
Natürlich gibt es auch in „Sweet Tooth“ Untergangs-Profiteure der finsteren Art: Skrupellose Ex-Ganoven und kriminelle Paramilitärs, die den Ausnahme-Zustand nutzen, um die Macht an sich zu
reißen und die ihren Anspruch auf Dominanz als Heilsbotschaft verkaufen. Doch selbst in diesen vermeintlich aussichtslosen Momenten verliert „Sweet Tooth“ nie seine erzählerische Leichtigkeit und
bleibt vor allem eins: ein zauberhaftes Märchen – aller Dystopie zum Trotz.