SERIE • Netflix erfolgreichste Retro-Gedächtnis-Show ist unter frenetischem Fan-Jubel in die vierte und vorletzte Runde gegangen – und ich grüble spätestens seit dem fast
vierstündigen Finale (über zwei "Folgen"), wie viel ich dem gezielte Verstaubtheit kultivierenden Format überhaupt noch abgewinnen kann.
Vordergründig finde ich niedliche Teenage-Supergirls, die per Telekinese-Schubser Militär-Helis ins Trudeln bringen, bevor sie dann pitschnass in ein behagliches Eiswasser-Bad abtauchen, mit
Barbaren-Schwertern bewaffnete Sheriffs und zottelmähnige D&D-Dungeon-Master, die zu Metallica in der Schattenwelt abrocken, natürlich ziemlich cool. Zum Beispiel, weil ich früher selber so
ein zottelmähniger, Jeans-Kutten-behangener Heavy-Metal-Dungeon-Master war und mir mit meinen Freunden genau den Medien-Blödsinn reingezogen habe, bei dem sich die Serie seit der ersten Staffel
so üppig bedient. Während im Hintergrund Metallica, Slayer, Blind Guardian & Co. (oder auch mal der "Conan"-Soundtrack) aus den Boxen dröhnten und "Iron Maiden"-Eddies untote Fratze von den
mit Metal- und Fantasy-Postern behangenen Wänden grinste.
Also ja, ich kann mit der Serie und ihren Figuren connecten. Und mich diebisch über ihre detailverliebte Hommage an eine Zeit erfreuen, die mich für immer geprägt hat. "Stranger Things" ist purer
80er-Kult: Das ist die Stärke der Marke – aber auch ihre größte Schwäche. Denn obwohl die 80er vieles hervorgebracht haben, auf dem unsere (Pop-)Kultur heute aufbaut, sind sie eben längst nicht
nur positiv besetzt: Sie sind das Jahrzehnt, in dem wirtschaftliche Entfesselung, Raubtier-Kapitalismus und Ellenbogen-Egoismus endgültig eskalierten – und mit ihnen eine Mentalität, die für
viele unserer heutigen Probleme verantwortlich ist. Wenn wir uns voller Verklärung an diese Zeit zurückerinnern, dann bekommen wir vor allem deshalb ein so behagliches Gefühl, weil die "Alles ist
möglich und alles wird gut"-Illusion für junge Menschen damals noch weitgehend intakt war – zumal das Ende des Jahrzehnts mit Entwicklungen wie Wiedervereinigung, Ende des Kalten Krieges und dem
allmählichen Verschwinden des nuklearen Schreckgespenstes ja durchaus verheißungsvoll erschien.
Heute wissen wir es zwar besser, sehnen uns aber trotzdem nach dieser vermeintlich einfacheren und "heileren" Zeit zurück – und Formate wie "Stranger Things" funktionieren dafür hervorragend als
Zeitmaschine. Unter anderem deshalb, weil sie die damalige Zeit so wunderbar unreflektiert zitieren und weichzeichnen. Hin und wieder gibt es auch ein bisschen Kritik (wie z.B. an der damals
tatsächlich grassierenden Behauptung der Medien, dass es sich bei Pen-and-Paper-RPGs wie "Dungeons & Dragons" um einen okkulten Trend mit Sekten-ähnlichen Zügen handele) aber die meiste Zeit
über werden wir in kuschelweiche Zitats-Zuckerwatte gebettet.
Das ist solange in Ordnung, wie wir nicht Gefahr laufen, den – für eine Serie zugegebenermaßen pompös präsentierten – 80er-Kult als Sprungbrett für die Sorte galoppierenden Konservativismus zu
nutzen, den man in der Retro-Ecke leider immer wieder beobachtet. Für die Art "Damals war alles geiler"-Mentalität, die heute wirklich kein Schwein mehr braucht und die wir uns als Gesellschaft
auch nicht mehr leisten können. Leider ist diese Gefahr aber ominpotent, weil uns die netflix'sche Retro-Schleuder Staccato-artig mit Stoffen bewirft, ohne den Kontext zu analysieren.
Hat man das Gedächtnis-Katapult in den ersten drei Staffeln noch vergleichsweise behutsam beladen, wird mittlerweile im Dauerfeuer-Betrieb alles zusammengeklatscht, was irgendwie Spaß macht. Und
JA, das macht auch TATSÄCHLICH großen Spaß – ist aber am Ende des Tages ungefähr genauso nahrhaft wie ein Besuch in den Pizza- und Fast-Food-Schuppen, die ebenso zum Medien-Karussell von
"Stranger Things" gehören wie Freddy Krüger – dessen ehemaliger Darsteller Robert Englund hier passenderweise den Vater einer Figur verkörpert, die ihre Existenz tatsächlich dem "Nightmare on Elm
Street" verdankt.
Da überrascht es auch kaum, dass die Handlungsmotive alle nicht neu sind: Ob es nun gerade um Elfie geht, die seit dem Verlust ihrer Superkräfte in Staffel 3 wieder mal ihre Vergangenheit
aufarbeiten muss, das mittlerweile nur noch pflichtgemäß abgehakte Verhältnis zu ihrem zunehmend uninteressanter werdenden Freund Mike, eine drollige, sich aber sonst etwas obsolet anfühlende
Rettungsmission in Russland oder den sich im heimischen Hawkins zuspitzenden Kampf gegen einen vermeintlich neuen Bösewicht – alle Figuren und Handlungsstränge dienen überwiegend als
Transport-Vehikel für 80er-Jahre-Klischees oder -Zitate.
Das ist zwar ein bisschen plump, klappt aber immer noch überraschend gut. Weil auch viele moderne Kino- und Serien-Stoffe sowieso nach in den 80ern etablierten Erzähl-Schemata funktionieren. Und
weil die Duffer-Brüder erstaunlich kunstfertig darin sind, ihre (diesmal vielleicht etwas zu glitschig geratene) Zitate-Soße und ihre verschiedenen Handlungsfäden stimmig miteinander zu
verknüpfen. Als hätten sie die Geschichte von Anfang so geplant. Naja, FAST.
Auf dieser Ebene funktioniert "Stranger Things 4" tadellos, überholt sogar die vielleicht einen Tick zu linear erzählte dritte Season und bietet uns wieder ein Sammelsurium aus knuffigen Figuren,
die wir vor allem deshalb so mögen, weil wir sie im Grunde schon seit 40 Jahren kennen. Alte Bekannte sind eben immer willkommen. Und wenn man mit ihnen in ein gut gelauntes Gespräch über
vergangene Zeiten vertieft ist, vergisst und verzeiht man ihnen auch gerne mal, dass sie im Grunde ganz schön verkalkt sind und sich kaum weiter entwickelt haben. Vor allem dann, wenn sie es
halbwegs geschickt hinter einer charmanten Fassade zu verstecken wissen.
Für ein paar Abende im Jahr geht das auch in Ordnung – solange wir darüber nicht vergessen, mit wem wir es hier zu tun haben. Kurzum: Ich mag die vierte Staffel (auch wenn sich das für manch
einen nicht so anhören mag) und werde sie mir sicher nochmal ansehen – aber mit einem leicht mulmigen Gefühl im Bauch. In der Hoffnung, dass es in Staffel 5 vielleicht etwas weniger Kitsch gibt –
und dafür ein paar frische Ideen mehr.
Aber bei aller Kritik: Mit seiner Premium-Show haut Netflix sämtliche Marvel- sowie "Star Wars"-Serienormate auf Disney+ mühelos weg. Zum Beispiel, weil man sich hier – aller kritiklos
zelebrierten Klischees zum Trotz – um die Entwicklung von Charakteren bemüht und ihnen den dafür nötigen Raum lässt.