Authentisches Aleste


 

KOLUMNE • Die Frage nach der Authentizität, gerade in Hinsicht auf klassische Spiele, beantwortet jeder Gamer für sich selbst anders. Dem einen genügt ein Emulator und eine lange Liste mit Roms, gleichwohl die legalen Implikationen dieser Gemengelage eindeutig zu Ungunsten dieser Zeitgenossen ausfallen. Andere greifen auf legale Angebote zurück – Downloads, Klassiker-Sammlungen etc. … wieder andere ziehen Original-Hardware vor, entweder über einen Upscaler oder Linedoubler wie den OSSC oder den RetroTink5 mit einem HD-TV verbunden oder sogar über RGB an einer echten Röhrr. Die Frage nach der Haptik ist für viele Spieler entscheidend, auch wenn am Ende natürlich jeder weiß, dass die Daten im Rom-File die gleichen wie auf dem Original-Modul sind. Aber es geht um mehr als diese nüchternen Fakten – es geht um das damit verbundene Gefühl und den Reiz des Originals, des Authentischen. Und genau dieses Authentische konnte der Autor dieser Zeilen überraschend deutlich am Anderen Ende der Welt erleben … und zwar in der digitalen Gestalt von M2’s Vertikal-Shooter „SenXin Aleste“.

Was diesen Titel so besonders macht, das sind nicht nur die exzellente Spielbarkeit, die erstklassige Pixelgrafik oder der fantastische Soundtrack … es ist nicht zuletzt auch die relative und ganz gezielte Unzugänglichkeit des Spiels. Im Sinne von physischer Erreichbarkeit wohlgemerkt – nicht im Sinne eines übermäßig komplizierten Spielprinzips. Denn „SenXin Aleste“ ist weder für eine klassische noch für eine moderne Konsole erschienen: Seit seinem Debüt im Juni 2021 ist „SenXin Aleste“ ein reines Arcade-Spiel, das auf Segas „ALL.Net P-ras MULTI Ver. 3“-Arcade-System erschienen ist. Das gibt es ausschließlich in Japan – und Japan war seit dem Ausbruch des allseits geschätzten Covid-19-Virus nahezu hermetisch vom Rest der Welt abgeschnitten. Für 99,9% westlicher Spieler gab es also kaum eine Chance, tatsächlich in Genuss der furiosen Pixel-Ballerei zu kommen.

 




 

Umso größer die Freude, dann tatsächlich eher unerwartet wieder in Tokio zu stehen – auch wenn der Hauptzweck der Reise (und des damit verbundenen Visums) eigentlich der Besuch der Tokyo Game Show ist … und nicht das ganz private Ziel, endlich selbst Hand an den begehrten Shooter zu legen. Dank Internet ist auch bekannt, wo der zu finden ist: Im „HEY – Hirose Entertainment Yard“, einem großen, von Taito betriebenen Game Center soll „SenXin Aleste“ auf den werten Gaming-Genießer warten. Und tatsächlich: Bereits beim Betreten des Etablissements sind Poster und andere Werbematerialien mit den vier Heldinnen der Ballerei zu sehen – die farblich codierten Pilotinnen Yuri Kunugi, Ratna Francis, Tanya Yaezakura und Huang Kexin begrüßen potenzielle Pixel-Piloten. Schließlich ist auch der Automat entdeckt, und es kann losgehen. Platz nehmen (vor japanischen Automaten sitzt man – die Variante, bei der man im Stehen spielt, ist eine westliche Angewohnheit), ein paar Hundert-Yen-Münzen bereitlegen, den mitgebrachten Kopfhörer mit dem Klinkenstecker verbinden … und ab geht die Kawumm-Post. Die erste Münze wird im Slot versenkt, der Stick fühlt sich herrlich präzise an…

… und gerade mal 30 Minuten später ist es geschafft. Der Abspann läuft, die futuristische Automaten-Welt ist gerettet und die Erkenntnis reift: Kein Rom, keine noch so präzise Emulation hätte dieses Spielerlebnis ersetzen können. Es fühlt sich wie eine ganz andere Art der Wertschätzung an – vielleicht vergleichbar mit dem Unterschied zwischen einer Vinyl-Platte und einer MP3-Datei. Wäre „SenXin Aleste“ einfach in einer Rom-Liste aufgetaucht, hätte man es vielleicht einmal gespielt, anerkennend genickt und wäre dann zum nächsten kurzweiligen Geballer gewechselt. Aber wie eine Schallplatte eben auch nicht einfach nur launige Hintergrundberieselung darstellt, sondern bereits der Akt des Auflegens und das Setzen der Nadel zum Erlebnis gehören, so ist auch der Genuss eines Automaten-Originals ein beinahe sinnliches Erlebnis. Ein Erlebnis, dem die bewusste Entscheidung des Spielers vorausgeht, sich für eben dieses Spielerlebnis zu entscheiden – indem man das richtige Game-Center heraus- und die Arcade-Maschine selber aufsucht. Platz nimmt, nach den nötigen Münzen gräbt und dem Spiel dann endlich seine ganze, ungeteilte Aufmerksamkeit widmet. Auch wenn man weiß, dass „SenXin Aleste“ als modernes Arcade-Spiel im Grunde „nur“ auf gewöhnlicher PC-Hardware und nicht mehr einem eigenes designten Board läuft. Doch allein im Game Center in Akihabara fühlt es sich wirklich „richtig“ an.

 




 

Ach ja, und was taugt das Spiel an sich jetzt eigentlich? Nun, kurz gesagt: Persönliches Game-of-the-Year-Material. Die Pixelgrafik ist wunderbar detailliert, das Spielgefühl erstklassig und gerade für einen Arcade-Shooter ist „SenXin Aleste“ geradezu unverschämt zugänglich: Besonders dann, wenn man die eher defensiv veranlagte Huang als Staffelführerin wählt und zunächst auf einem der niedrigeren Schwierigkeitsgrade einsteigt, haben auch unerfahrene Spieler gute Chancen, die späteren Level zu sehen. Kurzum: „SenXin Aleste“ wird der alt-ehrwürdigen „Aleste“-Serie mehr als gerecht – und obwohl es sich im Game-Center in Akihabara am „richtigsten“ anfühlt, hoffe ich doch täglich darauf, dass Entwickler M2 sich endlich ein Herz nimmt und eine Heimkonsolenfassung ankündigt. Oder einen anderen Weg findet, den Ausnahme-Shooter auch westlichen Fans zugänglich zu machen. Immerhin sagt Firmenchef Naoki Horii selbst auf direkte Nachfrage: "Das ist ein Problem, das ich gerne angehen würde und ich bereite auch schon etwas vor." (Thomas Nickel)