Rise of the Tomb Raider

Gerade mal zwei Jahre ist es her, da haben Square Enix und US-Entwickler Crystal Dynamics der bekanntesten Videospielheldin der Welt ein General-Makeover spendiert. Dafür legte Lady Croft  endlich das Image des virtuellen Pin-Up-Girls ab. Wurde zum Charakterkopf mit realistischen Proportionen, Gefühlen und Motivationen. Aus der drallen Silikon-Ikone der Generation PlayStation wurde ein Mensch. Zugegeben: Ein verdammt gutaussehender, aber nichtsdestotrotz ein Mensch. Ein Mensch, der bluten, weinen, sich fürchten und so richtig schön schmutzig werden konnte. Die Welt durfte dabei zusehen, wie Lara Croft von einem verwöhnten High-Society-Teenager zur Frau und Abenteurerin reifte. In "Rise of the Tomb Raider" ist sie endlich erwachsen.

Das macht sie noch immer nicht zu dem rücksichtslosen, Pistolen- und Peitschen-schwingenden Action-Luder, das sie früher einmal war – aber zumindest fast. Wo "Tomb Raider" das moderne Handy- und Party-Girl aus ihrer heilen Welt entführte, da ist es bei "Rise of the Tomb Raider" endgültig im Kaninchenbau angekommen und steht knietief im Dreck. Oder genauer: Im Schneematsch Sibiriens. Denn hierhin führt die neue Reise. In ein gnadenloses Land mit zähnfletschenden Wölfen, zugefrorenen Seen, zugefrorenen Steilhängen, zugefrorenen Höhlen und überhaupt so viel Verfrorenheit, dass der Abenteurerin buchstäblich der Atem gefriert. Und sie ihren knackigen Polygon-Po unter einem dicken, von glitzerndem Schnee bedeckten Mantel verstecken muss. Denn nicht nur Lady Croft nutzt ihre neue Expedition, um sich weiterzuentwickeln – auch das Abenteuer selber und die Technologie dahinter haben gehörige Sprünge gemacht. Wenn die noch immer blutjunge Lara im russischen Hinterland nach der "Quelle des Göttlichen" sucht, um dem Erbe ihres verstorenen Vaters auf die Spur zu kommen – dann erwartet den Adventure-Fan ein Effektfeuerwerk auf Traumfabrik-Niveau. Ein Selbsterfahrungs- und Erforschungs-Trip, der den Betrachter mit zahllosen Momenten des ungläubigen Staunens in Atem hält. Mitsamt märchenhafter Performance der virtuellen Darsteller und Hollywood-reifem Eskapismus.

 

 

Das neue "Tomb Raider" ist deutlich lauter und aggressiver als sein direkter Vorgänger, scheut sich aber nicht, hin und wieder ein paar ruhige und gefühlvolle Saiten anzuschlagen. Sich die Zeit zu nehmen, einen Blick in die Gedankenwelt seiner Heldin zu werfen. Zum Beispiel, wenn sie jenseits von Explosionen, Maschinengewehr-Geratter und überdrehten Stunt-Manövern ein paar Momente innehält. Innehält, um die müden und zerschundenen Gliedmaßen am Lagerfeuer zu wärmen. Hier werden Punkt für Punt die Fähigkeiten der Heldin gesteigert und verwandeln sich gesammelte Ressourcen in effektivere Schießprügel. Mehr Feuerkraft für Bogen, Pistole und Kalischnikow. Außerdem lässt Lara hier ihr Abenteuer Revue passieren: Während das Spiel den Fortschritt speichert, geht Lady Croft noch mal in sich und lässt den Spieler per Gedankenstimme an ihren Überlegungen teilhaben. Die wurde übrigens nicht wie im Vorgänger von der deutschen TV- und Leinwand-Aktrice Nora Tschirmer eingesprochen, stattdessen stand diesmal Synchro-Profi Maria Koschny am Mikro. Macht nichts: Lara ist (auch stimmlich) sympathisch wie eh und je, ihr Charakter wird ebenso wie ihr Gesicht und ihre Bewegungen wunderbar fein gezeichnet.

Denn außer erzählerischem Feinsinn und gutem Aussehen spielt vor allem die Beweglichkeit der Heldin wieder eine zentrale Rolle: Noch mehr als bei Laras Abenteuer auf der asiatischen Insel Yamatai in "Tomb Raider" sind wieder die Bein- und Sprung-Muckis der sportiven Grabräuberin gefragt. Lara kraxelt, balanciert und hechtet über Abgründe. Pixelgenaues Abspringen und Manövrieren auf engen Simsen wie in alten Zeiten wird dabei nicht verlangt – aber Präzision und Planung müssen sein. Zumal Terrains wie ein alter russischer Gulag und die Serien-typischen, unterirdischen Gruften komplexer sind denn je: Wann man hier wo klettern, abspringen oder den umfangreichen Geräte-Fundus einsetzen muss – das ist eine echte Herausforderung an Fingerfertigkeit, Orientierungssinn und Gedächtnis. Da werden mit dem Bogen komplexe Kletterseilnetze gespannt, Wasser-Bassins geflutet, Teile der Level-Architektur zerstört und Feuer gelegt: Die meisten Abschnitte verändern sich ständig und wollen auch nach Betrachten des Abspanns noch weiter erforscht werden.
Wie beim Vorgänger-Spiel sind die Schießbuden-artigen Action-Einlagen der einzige echte Kritikpunkt: Wenn Lara hinter Kistenverschlägen und Mauern in Deckung geht, um zwischendurch Pfeil oder Gewehrsalve ins gegnerische Getümmel zu feuern, dann läuft auch das neue "Tomb Raider" nicht zu Höchstform auf. Und wünschen sich gerade Serien-Fans, Crystal Dynamics hätte den Mut besessen, Laras Geschichte etwas entschleunigter und weniger Mainstream-gerecht zu erzählen. Um stattdessen noch mehr auf Entdeckung, Erzählung und Geschicklichkeitseinlagen zu setzen. Das waren schon immer die Stärken der Serie – und das hat sich bis heute nicht geändert. Zugegeben: Das ärgerlich schlechte Kampfsystem der frühen "Tomb Raider"-Abenteuer (von 1996 bis 2000) dürfte kein Fan ernstlich vermissen. Nur schade, dass mit der Verbesserung der Gefechte auch eine deutlich höhere Action-Dosis injiziert wurde. Hier haben die Entwickler wieder mal nicht das richtige Maß gefunden.

Aber wenn das der Preis dafür ist, dass die britische Lady noch immer erfolgreich auftreten und ihren Fans erhalten bleiben darf, dann zahlt man den nur zu gerne. Denn ob beinahrter Lara- oder einfach nur Adventure-Fan: "Rise of the Tomb Raider" ist tatsächlich der bisher beste Exklusiv-Grund, sich eine Xbox One zu kaufen. Ganz gleich, ob die weibliche Antwort auf Indiana Jones nun klettert, über ihr Leben sinniert oder einfach nur wild drauflos ballert. Wer unbedingt warten möchte, bis das Abenteuer Ende 2016 auch für PlayStation 4 erscheint, der verpasst was. Alternative: Auf die PC-Version warten – die erscheint immerhin schon Anfang kommenden Jahres.

 

Robert Bannert

 


9.0

sehr gut

Grafik: sehr gut

Sound: sehr gut

Steuerung: sehr gut

Spielspaß: sehr gut