Far Cry Primal

Ein Tal irgendwo im steinzeitlichen Europa: Eine Gruppe zotteliger Mammuts stapft prustend und trompetend durch eine von Baumriesen gesäumte, blühende Landschaft voller fremdartiger Blumen und riesiger Farngewächse. Während die Dickhäuter friedlich in Richtung Fluss marschieren, weht eine sanfte Brise durchs hohe Gras – genau dasselbe Gras, in dem ein einsamer Jäger geduldig auf der Lauer liegt. Ein Jäger, der weit gefährlicher ist als jeder Wolf, jede urtümliche Hyäne und selbst der gewaltigste Säbelzahntiger. Seine Art ist noch jung – aber bereits jetzt hat sie damit begonnen, sich die urzeitliche Welt zueigen zu machen. Statt Zähnen und Klauen benutzt sie bei der Jagd tödliche Werkzeuge – arglistige Vorrichtungen, die sie mit zuvor gesammelten Ressourcen bastelt: Aus Hölzern, geschärften Steinen, Sehnen und Fellen erschafft der Mensch Waffen, die denen der seiner tierischen Widersacher mindestens ebenbürtig sind. Seine Fähigkeit  zum abstrakten und kreativen Denken unterscheidet den frühen Menschen des Mesolithikums – der "Mittelsteinzeit" – bereits maßgeblich vom Tier. Aber noch immer verlangt ihm der tägliche Kampf gegen die Natur alles ab – noch ist er nicht der Herr dieser Welt. Er ist clever, aber auch zerbrechlich. Schwach und langsam. Muss sich in Höhlen und notdürftig gebauten Unterkünften vor den Wutausbrüchen von Mutter Natur verstecken. Er zerstampft Blumen und Kräuter zu einem stinkenden Brei, um damit Wunden zu behandeln, die ihn sonst töten würden. Er muss seine nackte Haut mit gestohlenen Pelzen und Fellen verhüllen, sonst würde er in kalten Nächten und im Winter erfrieren.

 

Kurzum: Die Steinzeit ist der perfekte Schauplatz für ein "Far Cry"-Spiel! Die Episoden seiner erfolgreichen Ego-Shooter-Reihe siedelt der französische Hersteller Ubisoft seit jeher an solchen Orten an, die sich am Rande der zivilisierten Welt befinden. In denen der Held nicht in erster Linie gegen eine Horde waffenstarrender Gegner, sondern vor allem gegen die ungezähmte Wildnis kämpft. Trotzdem waren die Gefechte gegen krallenbewehrte Räuber und übellaunige Dickhäuter bisher ziemlich ungleich: Gegen hochmodorne Komposit-Sportbögen, Maschinengewehre und Handgranaten zieht selbst ein wütendes Nashorn schnell den Kürzeren. Darum verlegt Ubisoft den Schauplatz des ersten großen Serien-Spin-Offs nicht nur an den Rand der Zivilisation – man verlegt es gleich in die Grenzregionen der Menschheitsgeschichte. 10.000 Jahre vor Christus tauscht der "Far Cry"-Held seine MP gegen einen Bogen, die Magnum gegen den Speer… und statt einer rasiermesserscharfen Machete schwinkt er eine grob behauene Axt, die gegnerische Knochen eher bricht als schneidet. Auch das Feindbild ist in dieser unwirtlichen, rauen Zeit ein anderes: Diese Welt wird nicht von durchgeknallten Diktatoren wie Pagan Min ("Far Cry 4") beherrscht – hier gibt Mutter Natur den Ton an. Und in den Konflikten, die zwischen den prähistorischen Stämmen entflammen, geht es nicht um die Gier nach Geld, Luxus oder Macht – es geht ums nackte Überleben. Darum, wer am Abend Fleisch im Steinzeittopf hat – und wem im Schein seines Lagerfeuers der Magen knurrt. Darum verortet Ubisoft seine Geschichte ans Ende der großen Eiszeit: Während die vergleichsweise friedliebenden Wenja mit dem "Tal von Oros" eine Art steinzeitliches Schlaraffenland bewohnen, flüchten die bulligen und Neandertaler-ähnlichen Udam aus einer kalten, kargen und noch immer eiszeitlichen Region des vorzeitlichen Europas. Wegen der Nahrungsmittelknappheit in ihrer Heimat haben sich die grausamen Krieger ziemlich üble Tischmanieren angewöhnt: Ist kein Tier in Sicht, dann wird kurzerhand ein Artgenosse niedergeknüppelt und verputzt.

 

 

Für die kulturell höher gestellten Wenja kommt die Ankunft der Menschenfresser wie ein Schock: Sie haben dem Ansturm der Eiszeit-Monster nichts entgegenzusetzen – bis die Dorfheilerin den "Primal"-Helden Takkar auf den Plan ruft. Der ist selber ein Neuankömmling in Oros, schnitzt quasi im Vorbeigehen tödliche Waffen zusammen und versteht sich außerdem hervorragend mit der einheimischen Fauna: Wildhunde, Wölfe und sogar der gefährliche Säbelzahntiger werden bei Takkar handzahm und gebärden sich an der Seite des Steinzeit-Jägers wie dressierte Schmusetiere. Statt "Spuck-Kratz-Fauch" sind dann "Miau!" und "Kuschel-Kuschel" angesagt. Sogar eine edle Eule hört auf den Ruf des "Bestienmeisters": Einmal herbeizitiert, erledigt das freundliche Federvieh den Job einer Kundschafterin.

 

Der mesolithische Kraftprotz ist also bestens gerüstet, um den Udam die Lust auf Wenja-Gehacktes auszutreiben – vorausgesetzt natürlich, er ist  nicht nur ein gewitzter Jäger, sondern betätigt sich auch noch als eifriger Sammler. Denn unter dem für derart große Spiele-Produktionen ungewöhnlichen Steinzeit-Szenario tickt das gleiche Spieldesign-Uhrwerk wie unter allen anderen Blockbuster-Produktionen des Herstellers: Die eigentliche Arbeit des egoperspektivischen Helden besteht darin, die während seiner Streifzüge eroberten Materilalien in den Ressourcen-Kreislauf des Spiels zu überführen. Aus Holz, tierischen Bestandteilen und verschiedenen Mineralien werden Waffen und Behältnisse hergestellt oder mit Upgrades veredelt. Tierfett wiederum hilft dabei, Geschosse und Keulen zu entzünden, der Verzehr von Fleisch dagegen heilt die Wunden des Helden oder seiner flauschigen Begleiter. Wer über größere Reserven verfügt, der investiert seinen "Reichtum" in den Ausbau der Wenja-Siedlung: Die Gebäude verschiedener Handwerker, Heiler und Magier zu verbessern – das bedeutet auch, neue Missionen und Werkzeuge für den eigenen Helden freizuschalten. Wie die praktische "Kletterkralle", die das ohnehin schon riesige Spielgebiet weiter vergrößert, indem sie zuvor unzugängliche Regionen öffnet.

 

Die an sich interessant präsentierte Geschichte vom Stammeskrieg gerät bei so viel Sammelei und Jäger-Alltag schnell in den Hintergrund: Weil Ubisofts neue alte Welt nicht in erster Linien von Menschen mit all ihren großen und kleinen Geschichten, sondern von brüllenden, fauchenden und grunzenden Kreaturen bewohnt wird, wirkt sie schnell leer und formelhaft. So fühlt sich der Held inmitten alle der urtümlichen Existenzen bald wie ein einsamer Sonntags-Spaziergänger im Wald: Bäume, Vögel und Eichhörnchen geben eine schöne Kulisse ab – aber sie sind lausige Gesprächspartner. Auch die Tatsache, dass sich Ubisoft eine echte (zum Beispiel englische oder deutsche Vertonung) zugunsten von Steinzeit-Sprech gespart hat, sorgt eher für Abstand denn Annäherung: Das auf dem Indogermanischem aufgesetzte Wenja- und Udam-Gebrabbel intensiviert zwar die atmosphärische Sogwirkung der wunderschönen Urzeit-Kulisse, aber sie verleiht dem Spiel eine fast schon dokumentarische Distanz. "Far Cry Primal" fährt eine eindrucksvolle Kulisse auf, außerdem hält es sich erfolgreich an die übliche, suchtverdächtige Jäger- und Sammler-Formel der Ubisoft-Welt. Leider mangelt es ihm am erzählerischen und dramaturgischen Klebstoff, der diese beiden Ebenen zu einem homogenen Ganzen vereint und aus dem Spiel auch eine Geschichte macht. Letztere wäre aber bitter nötig, um die bestialisch große Spielwelt zusammenzuhalten und den Spieler lange genug zu fesseln. Wer ein ausgeprägtes Sammler-Gen hat und schon immer auf Mammutjagd gehen wollte, der lässt sich von diesem Defizit zwar nicht abhalten – ihm steht der bisher eindrucksvollste Spaziergang in eine verspielte Steinzeit bevor.

Wer dagegen einer fesselnden Geschichte vor formelhafter Sammelei und schierem, in erhabener Schönheit erstarrtem Umfang den Vorzug und gibt, der wird in Odos kaum glücklich. Trotz verschmuster Schoßwölfe und plüschiger Kampftiger. Die Komponenten und Darsteller für eine packende Handlung sind zwar vorhanden – aber gegen die übermächtige Kulisse und ihre mit fast schon mathematischer Präzision ausgeführten Sammel-Formeln spielen sie vergebens an. Das Resultat ist Spielspaß ohne Persönlichkeit – oder die Ecken und Kanten und die gefährliche Garstigkeit, die manch einer vom steinzeitlichen Szenario erwartet. Als vorsintflutlicher Themenpark funktioniert "Far Cry Primal" tadellos, als Steinzeit-Simulation kaum. Andererseits: Es gibt deutlich Schlimmeres als einen funktionierenden Themenpark…


8.0

gut

Grafik: gut

Sound: sehr gut

Steuerung: gut

Spielspaß: gut