Iron Man im "Avatar"-Dschungel: "Anthem"


 

"Baldur's Gate", "Knights of the Old Republick", "Jade Empire", "Dragon Age", "Mass Effect": Die kanadischen Rollenspiel-Experten von Bioware sind bekannt für ihre interaktiven Erzählkünste. Plastisch gezeichnete Charaktere und sich fein verästelnde Story-Bäume, deren Wildwuchs der Spieler durch seine Entscheidungen maßgeblich mitgestalten kann – das sind die Trümpfe, mit denen man seit über 20 Jahren Millionen Spieler und hartgesottene Fans begeistert. Fans allerdings, die während der letzten Jahre vergleichsweise wenig Grund zum Jubeln hatten: Seitdem man die Eigenständigkeit aufgegeben hat, um sich vom Microsoft-Imperium assimilieren zu lassen, hat das einst – neben Rare – als bester Spiele-Entwickler der Welt gepriesene Entwickler-Team mit zunehmenden Problemen zu kämpfen. Ein MMORPG im Universum von "Knights of the Old Republic" brachte nicht den gewünschten Erfolg und spätestens seit "Andromeda" ist auch die einst so erfolgreich durchgestartete Science-Fiction-Marke "Mass Effect" in Ungnade gefallen.

Kurzum: Die Geschäftsstrategien, mit denen Electronic Arts die einstige Kultschmiede in eine Blockbuster- und Franchise-Fabrik verwandeln wollte, sind weitgehend gescheitert. Für Entspannung sollte bis kürzlich die Veröffentlichung von "Anthem" sorgen – eines Fantasy-Sci-Fi-Hybriden, der seine aus "Star Wars"- und "Avatar"-Versatzstücken gezüchtete Story in eine üppige Dschungelwelt verlegt, deren Monumente und Technologie-Fragmente auf die Angehörigen einer verschwundenen Super-Rasse zurückgehen. Zu den wichtigsten Hinterlassenschaften dieser Altvorderen gehören die Javelin - stählerne Exo-Rüstungen, mit deren Hilfe sich die Spieler wie Marvels Iron Man in die Lüfte wuchten und ekliges Alien-Getier aus dem Unterholz oder von regennassen Hochplateaus ballern können. Inzwischen kauern sich die weniger wehrhaften Überlebenden der Menschheit angstvoll in Siedlungen und Enklaven wie der als Spieler-Basis fungierenden Stadt Fort Tarsis zusammen - in der bangen Hoffnung, dass ihnen die 'Freelancer' mit ihren Javelins aufdringliche Monster, durchgedrehte Maschinen-Götter und feindliche Fraktionen vom Hals halten.

Schöne Voraussetzungen also für ein blumig erzähltes Rollenspiel-Abenteuer à la Bioware - mit extra viel Bombast-Sahne und einer leckeren Pathos-Kirsche als Krönung obendrauf. Nur leider ist "Anthem" weder ein echtes Rollenspiel noch will es dem Spieler eine nennenswerte Geschichte erzählen - stattdessen ist das Action-geladene Märchen von den tollkühnen Blechmännern in ihren fliegenden Rüstungen ein auf Beute- und Ressourcen-Spirale fokussierter Online-Shooter. Und der soll es nicht mit RPG-Schwergewichtern, sondern vor allem mit Bungies "Destiny" aufnehmen. Zugegeben: Die vernetzte Schießbude der "Halo"-Erfinder ist längst nicht mehr so erfolgreich wie einst und wurde von Activision mittlerweile dankbar an ihre Erfinder zurückgegeben. Aber die Idee, Online-Action mit MMO-Elementen und einer gemeinsam begehbaren Story-Erfahrung zu kombinieren, die hat nach wie vor Potenzial. Vorausgesetzt natürlich, man packt es richtig an: "Destiny" lockt trotz des geschrumpften Erfolgs noch immer Fans an, weil sich Entwickler Bungie auf hochdynamische Ego-Action, leichtfüßiges Gameplay und ein gelungenes Verhältnis zwischen Spiel-Aufwand beziehungsweise Beute-Ertrag versteht. Nur: Große Geschichten erzählen - das ist eine Disziplin, die Bungie leider nicht sonderlich gut beherrscht. Darauf wiederum versteht sich Bioware - oder genauer: VERSTAND.

 



 

Denn anders als bisherige Bioware-Titel, die immer erst eine Erzählung und danach ein Blockbuster waren, will "Anthem" vor allem Spektakel bieten. Und tatsächlich: Mit seiner üppig bewachsenen und lebendig wirkenden Spielwelt, interessantem visuellem Design sowie prachtvoll ausgeleuchteten Höhlensystemen schlägt es den Spieler zumindest für einige Stunden in seinen Bann. Nur leider vergisst es darüber die Bereitstellung ausreichender Inhalte ebenso wie das dynamische Gameplay und die für eine Online-Schlacht lebenswichtigen Motivations-Mechanismen. Ebenfalls verzweifelt vermisst: Eine eigene Note. Irgendetwas, an dem man die Marke "Anthem" festmachen oder mit dem man sich während des Dauerfeuer-Betriebs identifizieren kann. Etwas, das Biowares Effekt-Schlacht über den Status eines bloßen Möchtegern-"Destiny" erhebt. Denn aktuell wirkt es wie ein nach frankenstein'schem Marketing-Rezept zusammengenähtes Monstrum, das ordentlich Rumms macht, ohne einen eigenen Fußabdruck zu hinterlassen. Der wäre aber bitter nötig, um die Community bei der Stange zu halten, denn ohne tieferes Interesse an der bereitgestellten Welt wird sie sich auf Dauer aus dem zwar hübschen, aber generisch aufgeforsteten Action-Dschungel zurückziehen.

Dabei sind die für einen Langzeiterfolg nötigen Zutaten eigentlich im Überfluss vorhanden, werden aber immer wieder durch kritische Denkfehler ausgebremst: So steuern sich die fliegenden Javelin zwar hervorragend, müssen aber wegen rascher Überhitzung zu schnell wieder landen und werden obendrein in oft so enge Level-Strukturen gezwängt, dass man ihre Beweglichkeit nicht mal richtig ausreizen kann. Gleichzeitig haben die gekonnt animierten und deutsch vertonten Dialog-Sequenzen in Fort Tarsis zwar das Zeug dazu, ein zumindest kurzzeitiges Interesse an der unterrepräsentierten Handlung zu entwickeln - aber gleichzeitig sorgen sie dafür, dass die Begleiter des Leit-Spielers während des ausufernden Gequatsches zu Passivität und Langeweile verdammt werden.

Auch sonstn hat man den eigentlich dominanten Multiplayer-Teil von "Anthem" nicht so Recht zu Ende gedacht: Obwohl sich bis zu vier Schießwütige zusammen in die Schlacht stürzen dürfen, ist das Spiel so stark instanziiert, dass sich das vermeintliche MMO leblos und verlassen anfühlt. "Destiny" z.B. hat seinen Reiz nicht zuletzt daraus bezogen, dass man alleine oder mit einem kleinen Team durch die Spielwelt schwadronieren und dabei wie in einem MMO zufällig auf andere Gamer treffen konnte - spontane Begegnungen, aus denen sich neue Teams formieren und sogar Freundschaften entstehen konnte. "Anthem" verzichtet weitgehend auf dieses Element und reduziert sich auf ein vornehmlich geradliniges Spielerlebnis, das zwar Multiplayer anbietet, sich aber nicht wirklich danach anfühlt. Fast so, als hätte sich der sonst für seine Singleplayer-Spiele berühmte Entwickler selber nicht so recht entscheiden können, was "Anthem" nun eigentlich sein soll: Rollenspiel oder Action. Story-getriebener Singleplayer oder Multiplayer-Scharmützel. Am Ende ist "Anthem" leider nur eins: Eine meist flott spielbare und vor allem verdammt hübsche Schießbude. Wer sich dagegen eine Alternative zu "Destiny" erhofft, sollte lieber abwarten. Und wer sich die Sorte erzählerisches Schwergewicht wünscht, für das der Entwickler sonst steht, lässt es besser gleich ganz sein und hofft stattdessen auf dessen nächste Entwicklungen: Immerhin hat Bioware angekündigt, bald auch wieder kleinere Spiele zu produzieren - ohne den monetären Druck einer großen Produktion. Vorausgesetzt natürlich, das Studio überlebt "Anthem". Es wäre nicht der erste einstige Traditions-Entwickler, der komplett in den Konzern-Strukturen von EA versickert und schließlich auch namentlich von der Bildfläche verschwindet. Für immer.

 

Note: 6.5 (BEFRIEDIGEND)

 

 



WERTUNGEN: 1.0, 1.5, 2.0 = ungenügend • 2.5, 3.0, 3.5 = mangelhaft • 4.0, 4.5, 5.0 = ausreichend • 5.5, 6.0, 6.5 = befriedigend • 7.0, 7.5, 8.0 = gut • 8.5, 9.0, 9.5 = sehr gut • 10 = bahnbrechend



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